Mythen, Ikonen, Märtyrer – sozialdemokratische Geschichten

[analysiert]: Felix Butzlaff und Franz Walter über die Bedeutung von Geschichtsbewusstsein für Parteien.

Im Mai 2013 werden die deutschen Sozialdemokraten auf 150 Jahre Parteigeschichte zurückblicken können. 1863 hatte Ferdinand Lasalle in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein aus der Taufe gehoben – nur eines von etlichen Jubiläen, die den deutschen Sozialdemokraten als Eck- und Gründungsdatum der eigenen Geschichte dienen. Denn diese ist überreich an Erzählungen, Mythen, Ikonen, an Gründungsgeschichten und -figuren. Darauf dürfen sie schon mit Fug und Recht ein wenig stolz sein. Denn um eine pure Selbstverständlichkeit handelt es sich dabei nicht. Schließlich hat sich Deutschland in diesen eineinhalb Jahrhunderten ungeheuer verändert, hat mehrere Systemwechsel erlebt – vom Norddeutschen Bund über das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die DDR, die Bonner Republik bis hin zur jetzigen Berliner Republik –, hat weitreichende soziologische und gesellschaftliche Wandlungen erfahren, hat Depressionen und Inflationen durchlitten. Insgesamt: Deutschland hat sich in dieser Zeit von einem eher vorindustriellen Land zu einer postindustriellen Gesellschaft entwickelt. Aber das hat die Sozialdemokratie nicht verschwinden lassen, ganz im Gegenteil. Sie hat all diese Transformationen überstanden.

Doch mehr noch: Die Sozialdemokraten haben eine solche Story nicht nur vorzuweisen, sie können eine wirklich pralle Geschichte erzählen. Eben das ist es wahrscheinlich, warum es die Partei noch gibt. Die Sozialdemokraten konnten von Generation zu Generation ihre Geschichte weiter erzählen. Denn es war die aufregende Geschichte von großen Konflikten, schlimmen Gefahren, üblen Verfolgungen, mutigen Frauen und Männern, tragischen Märtyrern, verwegenen Abenteurern, aber auch von verächtlichen Konvertiten. Die Sozialdemokraten haben also den Stoff für Geschichten, für Mythen und Legenden, für das große Epos.

Herfried Münkler hat jüngst mehrere Male eindringlich darauf hingewiesen, wie essentiell geschichtsgesättigte Mythen für die Stabilität eines Gemeinwesens oder einer Gesellschaft sein können. Denn sie ordnen und stabilisieren unsere Wahrnehmung der Welt, wenn sie Politik und die alltäglichen Geschehnisse in einen Zusammenhang einbetten, indem sie die Leitlinien und Ziele sicht- und erfahrbar machen, wofür Durststrecken und dunkle Zeiten zu ertragen sich lohnen. Münkler spricht daher von politischen Mythen als Mut machende Bedeutungsinvestitionen, „mit denen sich das politische Handeln des Augenblicks mit einem gewissen Zauber umgeben könne“[1]. Denn Mythen sind in der Lage, Politik als Projekt zu erklären, durch eine große Erzählung der politischen Praxis Zusammenhang und Aura zu verleihen. Kurz: Mythen stellen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft dar, lassen die Geschichte „mit den Augen der Identität“[2] betrachten.

Zwar hat Roland Barthes in den 1960er Jahren in seinen „Mythen des Alltags“ postuliert, dass die arbeitenden Schichten mit einer direkten Verbindung zur Realität der Arbeit grundsätzlich „unmythisch“ seien und lediglich die Bourgeoisie wie die politische Rechte Interesse an einer durch Mythen verzerrten Wirklichkeit hätten.[3] Und auch Sozialdemokraten selbst, wie etwa Peter Glotz, haben den Begriff des Mythos für die eigene Bewegung bisweilen abgelehnt und ihn dem Begriff der Aufklärung als konträr gegenüber gestellt.[4] Anderthalb Jahrhunderte eigene Geschichte haben aber gleichwohl eine lange Reihe von Selbstvergewisserungen und Interpretationen der eigenen Vergangenheit geschaffen, die im Kampf gegen Unterdrückung und für die Emanzipation der Arbeiterschaft unverzichtbar waren.

Eine Sammlung dieser Mythen und Erzählungen bietet aber nicht nur die Möglichkeit, den Erfahrungsreichtum und Anekdotenschatz einer Partei zu betrachten, die so ausdauernd wie kaum eine andere Bewegung den Werdegang Deutschlands in den letzten anderthalb Jahrhunderten begleitet hat; sie erzählt auch vom Wandel dieser Organisation selbst. Denn Mythen und Erinnerungen wandeln sich ihrerseits im Laufe der Zeit, übernehmen andere Erklärungsaufgaben. Eine Betrachtung des identitären Kerns der Arbeiterbewegung muss zwangsläufig die Sattelzeit der Sozialdemokratie in den Blick nehmen. Hier, in der Anfangszeit, haben sich die prägenden Sinnmuster und Wahrnehmungen herausgebildet, hier nahmen viele Erzählungen ihren Anfang.[5] Die Scheidelinie zwischen Freund und Feind, der Stolz auf die eigene Bewegung, das Erzählen der kommenden Zukunft: All diese Merkmale des Sozialdemokratischen haben ihren Samen in den Jahrzehnten der Gründung. Es liegt in der Sorgfaltspflicht eines jeden Geschichtenerzählers begründet, dieser Zeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Bei dem nun vorliegenden Buchprojekt „Mythen, Ikonen, Märtyrer. Sozialdemokratische Geschichten“ ist es uns nicht in erster Linie um eine definitorische Arbeit am Mythos gegangen ist, sondern darum, der Kraft und Entwicklung der Arbeiterbewegung nachzuspüren. Auch deshalb haben wir die Grenze dessen, was uns Mythos/Erinnerungsort/Erzählung war, recht weit gezogen: sowohl Figuren und Personen und ihre Rolle, besondere Orte und ikonische Ereignisse sowie zentrale Politikinhalte oder kulturelle Entwicklungen in und um die Sozialdemokratie. Zentral für eine Auswahl war uns das Kriterium, dass der jeweilige Ort, Ikone, Mythos oder Projekt über das Weitererzählen seiner Geschichte im Kontext der Sozialdemokratie zur Selbstvergewisserung beigetragen hat, was den Charakter des eigenen Selbst anbelangt. Denn bei Kollektiven diene, so Konrad Paul Liessmann, „die Erinnerung überhaupt erst als Konstitutionsbedingung eines ‚Wir‘, das sich in als gemeinsam behaupteten Geschichten seine Identität konstruiert“[6]. Besonders Gruppen, die sich einer feindlich gesinnten Mehrheitsgesellschaft gegenüber sähen, seien darauf angewiesen, stark verankerte gemeinsame Erinnerungen zu besitzen, die auch den Zusammenhalt der Bewegung nach innen garantierten, da diese „nur um den Preis der tendenziellen Nichtzugehörigkeit bezweifelt werden können“[7].

Zwar kann eine solche Randständigkeit für die Sozialdemokratie der letzten vier Jahrzehnte kaum ernsthaft konstatiert werden – für die langen Entwicklungsphasen davor allerdings schon. Und vor diesem Hintergrund wird auch der Bedeutungswandel der von uns betrachteten Erinnerungen deutlich. Die zentrale Funktion der Erzählung wird schon bei den ersten beiden Kapiteln des Bandes deutlich: Ferdinand Lassalle wie August Bebel waren nicht nur als Führungsfiguren der ersten Stunde selbst zu einer Art Mythos geworden, sondern sie fungierten auch als Produzent vieler weiterer Erzählungen, die dann über Versammlungen und Volksreden weitergegeben worden sind. Das „narrative Moment“[8] der Weitergabe eines Sinnversprechens war hier vieles zugleich: Trost, Orientierung, Ermutigung, Stolz. Insofern ist mit dem Hineinwachsen in die bundesrepublikanische Gesellschaft auch die sozialdemokratische Mythenwelt zumindest facettenärmer und auch ein wenig blasser geworden – das Pflegen und Bewahren eigener, abgrenzender Deutungen war Stück für Stück weniger elementar geworden.[9]

Natürlich ist die Arbeiterbewegung, speziell die deutsche, 1863 auch nicht aus dem luftleeren Raum entstanden. Schon 1889 etwa trafen sich die Parteiführer der sozialistischen Parteiführer Europas in Paris, um das hundertjährige Jubiläum der Französischen Revolution zu begehen und sich als die eigentliche Erbenbewegung ihrer Ideale zu feiern.[10] Neben Victor Adler, Georgi Plechanow und Jules Guesde unterzeichneten dabei auch Wilhelm Liebknecht und August Bebel eine Deklaration, die in weiten Teilen auch heute noch Programm sein könnte: „Our aim is the emancipation of the workers, (…) and the creation of a society in which all women and men irrespective of sex or nationality enjoy the wealth produced by the work of all workers.“[11]

Standesgemäß für eine gewichtige und geschichtsbewusste Bewegung begeht die deutsche Sozialdemokratie ihr Jubiläumsjahr mit einer Vielzahl an Publikationen, Veranstaltungen, Tagungen, Diskussionspodien und mit einer Wanderausstellung. Was dabei über die ritualisierte Andachtsamkeit hinaus an Antriebskraft und Begründungstreibstoff für eine heutige Sozialdemokratie gezogen werden kann, liegt an den diesseitigen „Übersetzern“. Denn das zeigen all die betrachteten Mythen dann doch sehr deutlich: Nur wenn ein Bezug hergestellt werden kann, wenn herausgestrichen werden kann, welche Lehren aus der Vergangenheit im Hier und Heute etwas vermitteln, erklären und sich mit aktuellen Ansinnen verbinden, nur dann bleibt auch eine hundertfünfzigjährige Geschichte von elementarem Wert für die innere Kraft einer Partei und verblasst nicht zu einem reinen Anekdotenschatz der Parteihistoriker. Es bleibt also der Bewegung selbst überlassen, wie viel und was sie aus ihren Mythen ziehen möchte.

Felix Butzlaff und Franz Walter sind die Herausgeber des Bandes „Mythen, Ikonen, Märtyrer. Sozialdemokratische Geschichten“, der soeben im vorwärts buch-Verlag erschienen ist.

 

Foto 3. Absatz: August Bebel, Karikatur von Gustav Brandt aus Kladderadatsch von 1903 (veröffentlicht unter Gemeinfreiheit).


[1] Münkler, Herfried: Mythischer Zauber, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.08.2010.

[2] Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007, S. 40.

[3] Zitiert nach Zimmering, Raina: Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000, S. 19.

[4] Vgl. Glotz, Peter: Mythos und Politik. Über die magischen Gesten der Rechten, Hamburg 1985.

[5] Andreas Doerner etwa fragt sich, ob sich eine politische Gemeinschaft ohne einen oder eine Gruppe von Gründungsmythen überhaupt entwickeln kann, vgl. Doerner, Andreas: Politischer Mythos und symbolische Politik: Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen 1995, S.33.

[6] Liessmann, Konrad Paul: Die Insel der Seligen. Österreichische Erinnerungen, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 18.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 31.

[9] Herfried Münkler streicht dies auch für die bundesrepublikanische Gesellschaft insgesamt heraus. Vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S.10.

[10] Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, New York 1996, S. xix ff.

[11] Ebd., S. xx.