Mit Manifesten Meinungen machen

[analysiert]: Johanna Klatt und Robert Lorenz über die Entwicklung und Bedeutung politischer Manifeste gestern und heute.

Es ist die Zeit des Manifestierens, könnte man meinen. Während aktuell die repräsentativen Organe der Demokratie – die Parteien, Parlamente und Politiker – öffentlich eher gering geschätzt werden, steht der Typus des Zivilgesellschaftlers hoch im Kurs. Eine wichtige Unterart seiner Gattung im Bereich der politischen Beteiligung ist: der „Manifestant“.

Bei ihm handelte es sich im ursprünglichen Sinne gar nicht um einen Vertreter der Zivilgesellschaft. Im Gegenteil: Könige und Kaiser, Regierende und Herrscher waren es zunächst, die manifestierten und manifestieren durften. Denn das politische Manifest befand sich als politisches Instrument ursprünglich in den Händen des politisch Herrschenden. Mit seiner Hilfe verlautbarte dieser etwa Kriegserklärungen und verkündete sie der Bevölkerung. Im historischen Zeitverlauf wechselte das Manifest jedoch die Seiten. Zu Zeiten der Aufklärung, in einer Phase also, in der sich die bürgerliche Gesellschaft und Zivilgesellschaft, wie wir sie heute kennen, herausbildete, wandelte sich das politische Manifestieren immer mehr zu einem Instrument des Bürgers.

Zahlreiche Manifeste, die sich zum Teil auch Erklärung, Appell oder Aufruf nannten, belegen bis heute die ungemeine Vitalität der politischen Zivilgesellschaft. Und dies sowohl in freien wie unfreien Gesellschaften. Unabhängig von der jeweiligen Ausprägung gesellschaftlicher Freiheiten und Bürgerrechte ist den Manifestanten allerhand gemein: Der Drang, sich als Autorenkollektiv einem politischen Thema zu widmen, ein Problem zu benennen, an die Öffentlichkeit zu appellieren, eine Meinungs- und Deutungshoheit anzustreben und damit Politik und Gesellschaft verändern zu wollen. Mussten Georg Büchner und seine Autorenkollegen des „Hessischen Landboten“ noch Anfang des 19. Jahrhunderts in durch staatliche Verfolgung gefährdeten Nacht-und Nebelaktionen Druckerpresse anwerfen und Flugblätter verteilen, so erfolgt die Vervielfältigung und Verbreitung von Manifesten heute durch einen Mausklick. Ist das politische Manifest daher nicht wie gemacht für die heutige Zivil- und Bürgergesellschaft?

Auch wenn – wie gesagt – das politische Manifest einen Seitenwechsel von der Hand des Herrschenden zu der des gewöhnlichen Bürgers vollzogen hat, verfügt heute natürlich nicht jeder Bürger über die gleichen Möglichkeiten, wirkungsvoll zu manifestieren. Nicht nur bedarf es dafür ausreichender, wenn nicht gar überdurchschnittlicher rhetorischer und sprachlicher Fertigkeiten. Um einen Manifesttext prominent zu platzieren, sind auch Kontakte in die Welt der Politik und der Medien hilfreich. Eine gewisse Prominenz der Autoren oder zumindest einiger Mitunterzeichner garantiert zudem Aufmerksamkeit, weshalb beispielsweise die Unterschriften von Manifestanten wie Albert Einstein oder Käthe Kollwitz besonders wichtig waren.

Gleichzeitig bilden heute der oftmals hohe Bildungsgrad unserer Bevölkerung sowie die freie Medienlandschaft ideale Voraussetzungen für eine rege Manifestationspraxis. Das kann man an der Zivilgesellschaft ablesen. Denn in Folge der hohen Mitgliederverluste der meisten Parteien engagieren sich viele gut ausgebildete Menschen nicht mehr als Angehörige der repräsentativen Ebenen der Demokratie, sondern sind außerhalb der politischen Räte und Parlamente aktiv. Manifeste bieten dabei einen Weg, diesen externen Sachverstand in die Politik einfließen zu lassen. Zivilgesellschaftliche Akteure sind zudem freier und unbedarfter in der Ansprache bestimmter  Probleme. Anfang der 1960er Jahre war es zum Beispiel eine Gruppe evangelischer Professoren, die sich – nicht in ihrer beruflichen Funktion, sondern als unabhängige Bürger – erstmals öffentlich für eine neue Ostpolitik aussprachen. Manifestanten vermögen es damit bisweilen, Themen anzusprechen, die für den ein oder anderen auf Wählerstimmen bedachten Parlamentarier noch „zu heiß“ erscheinen. Das politische Manifest ergänzt so Prozesse der parlamentarischen Demokratie und kann – vielleicht gerade heutzutage – einer als angeschlagen empfundenen Parteiendemokratie Leben einhauchen.

Natürlich besteht für Manifestanten nach wie vor die Herausforderung, sich in einem Autorenkollektiv auf einen Text zu einigen, eine gemeinsame Forderung zu formulieren und, das ist womöglich am kniffligsten, alternative Lösungsvorschläge anzubieten. Erst kürzlich beschrieb dies Stefan Niggemeier, einer der Verfasser des so genannten Internet-Manifests: Es zeigt sich, „dass schon 15 Leute eher zu viele als zu wenige sind, um gemeinsam und ohne Hierarchien einen pointierten Text zu entwickeln.“ Niggemeiers Befund verweist gleichsam auf einen anderen Aspekt: Das Projekt des gemeinsamen Manifestierens wird dabei selbst zum politischen Akt. Durch den kollektiven Deliberationsprozess und die langwierigen Aushandlungen, die mit ihm oftmals einhergehen, kommt man einem demokratietheoretischen Ideal des Politikmachens recht nahe.

Unterdessen beschränkt sich dieser innere politische Dialog unter Redakteuren auf eine Gruppe relativ Gleichgesinnter. In seinem diskursiven Entstehungsprozess erzwingt das politische Manifest keine Auseinandersetzung mit anderen politischen Meinungen. Vielmehr versammeln sich die Manifestanten in spe als Interessengenossen, oder zumindest als Interessennachbarn. Was die innere Deliberationswirkung und das Potential interner politischer Auseinandersetzung angeht, ist das Manifest damit also gewissermaßen beschränkt und lässt sich kaum mit parlamentarischen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen parteipolitischen Fraktionen vergleichen.

Manifeste sollten gleichwohl an ihrem primären Ziel gemessen werden: eine gesellschaftliche Diskussion anstoßen, beleben und bereichern, indem sie Standpunkte und Meinungen pointieren und dadurch politisieren. Sie regen nicht nur den politischen Dialog an, sondern tragen quasi zu einer diskursiven Frontenbildung bei.  Für den einzelnen Bürger bieten Manifeste so die Chance, selbst politisch „Farbe zu bekennen“, sich an Debatten zu beteiligen, auch wenn man der Politik eher gleichgültig gegenüber steht. Manifeste können also auch als Türöffner für gänzlich „unpolitische“ Menschen dienen – ein wahrlich nicht gering zu schätzendes Potential im Sinne einer lebhaften Debattenkultur der Gesellschaft.

Johanna Klatt und Robert Lorenz sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie sind Herausgeber des jüngst erschienen Sammelbandes: Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells. Bielefeld 2010. Weitere Informationen hierzu finden sich in unserem Publikationsverzeichnis sowie auf der Seite des Transcript-Verlages.