[kommentiert]: Franz Walters Beitrag zur Sarrazin-Debatte
Wir reden von immerhin 15,3 Millionen Deutschen, wenn wir den Begriff „Migrationshintergrund“ verwenden. Das sind 18,6 Prozent der Wohnpopulation hierzulande. Der Anteil steigt, je jünger die Bevölkerung sich präsentiert. Von den Kindern bis zu fünf Jahren wird jedes dritte in einer Familie mit Migrationsbiographie groß. In der Gesamtbevölkerung Deutschlands befinden sich dreizehn Prozent im Alter zwischen 20 bis 29; in der Migrationskultur liegt die Quote bei 23 Prozent. 15 Prozent aller Bewohner in Deutschland sind über siebzig; aber nur drei Prozent der Bürger, deren Familien zugewandert sind. In den alten Bundesländern gehört bereits ein Fünftel der Bewohner zur Gruppe mit einer Migrationsgeschichte; in der ostdeutschen Region liegt der Anteil nur bei sieben Prozent. Weit überproportional findet man die Migrationskultur mit einem Viertel aller dort lebenden Einwohner in den Großstädten, während in Dörfern und Kleinstädten lediglich drei Prozent eine solche Provenienz aufweisen. Das Herkunftsland Nummer Eins ist die frühere Sowjetunion mit 21 Prozent der Migration in Deutschland, gefolgt von der Türkei mit neunzehn Prozent. Zwölf Prozent kommen aus südeuropäischen Ländern, elf Prozent aus Polen.
Die Migration ist also keineswegs mehrheitlich muslimisch, wie man annehmen könnte, wenn man derzeit wieder die aufgeregten Kommentare zum Kampf der Kulturen und Gene liest. Vielmehr dominieren die Katholiken, die ein Drittel der Zuwanderungsmilieus ausmachen. Zu den Muslimen zählt dagegen lediglich ein Fünftel. Religiöser Fundamentalismus ist es offensichtlich nicht, was die Migration in Deutschland charakterisiert: 84 Prozent vertraten in einer Umfrage die Meinung, dass Religion eine reine Privatsache sei. Noch dezidierter fiel die Zustimmung zu der Aussage aus, dass die Gesetze des Staates wichtiger seien als die Gebote auch der eigenen Religion.
Insofern scheinen die weltanschaulich-religiösen Barrieren, welche kulturelle und gesellschaftliche Integration vereiteln könnten, nicht ganz so groß zu sein, wie in diesen Tagen furchtsam ausgemalt wird. Für das Gros der Bürger aus Migrationsmilieus ist die Integration weder eine offene Frage noch ein ungelöstes Problem. Dieses Gros ist längst in einem postintegrativen Stadium angekommen. Bemerkenswert ist in der Tat, dass der Anteil formal Hochgebildeter in den Gruppen der Migration höher liegt als im Rest der Bevölkerung, übrigens auch die Quote der Besserverdienenden. Dazu: Über achtzig Prozent äußerten unlängst in einer aufwendig durchgeführten Befragung des Heidelberger Sinus-Instituts, dass sie „gerne“ oder „sehr gerne“ in Deutschland leben; und nur ganz wenige bezeichnen ihr Herkunftsland als „eigentliche Heimat“.
Die genannte Studie legt den Schluss nahe, dass aus der Migration heraus ein produktiver und innovativer Leistungsnukleus für die deutsche Gesellschaft erwächst. Vor allem bildet sich in den „intellektuell-kosmopolitischen“ und jung-multikulturellen Aufsteigerlebenswelten, wie sie von den Milieuanalytikern etwas sperrig charakterisiert werden, eine neue, für das 21. Jahrhundert formative Elite heraus, die immerhin schon ein Viertel der Gesamtmigration umfasst. Deren Träger – mehr Frauen als Männer übrigens – sind stolz auf ihre Bikulturalität, ihre Mehrsprachigkeit, ihre lebensgeschichtliche Inspiration durch sehr verschiedenartige Philosophien. Aus diesem multidimensionalen Erfahrungsreichtum ziehen sie ihr Selbstbewusstsein und begründen damit den Anspruch, als Leitformation einer kulturell spannungsreichen Weltgesellschaft eine Art Pionierrolle einzunehmen. In diesen beiden Milieus verfügt die Mehrheit über die deutsche Staatsbürgerschaft, während das im traditionell religiös-verwurzelten Milieu nur auf sechzehn Prozent der Zugehörigen zutrifft.
In vielerlei Hinsicht steht die Mehrheit der Migration der Aufsteigermentalität in der deutschen Nachkriegsgesellschaft außergewöhnlich nah, ja verkörpert diese frühere deutsche Leitkultur inzwischen kraftvoller und vitaler als der Rest der autochthon deutschen Nation. Fast 70 Prozent der Menschen in Deutschland mit Zuwanderungsvergangenheit sind überzeugt davon, dass jeder, der sich anstrengt, auch nach oben zu gelangen vermag. Die deutsche Mitte sonst ist da mittlerweile weit skeptischer, auch resignierter, eher in Furcht vor dem Abstieg gefangen als durch Hoffnungen auf Aufstieg beseelt.
Insofern haben es Apologeten des alten Sozialstaats in den neuen Migrationsgruppen künftig allerdings nicht leicht. Denn dort wird mehrheitlich sehr dezidiert das Postulat abgelehnt, dass es eine vorrangige Aufgabe des Staates zu sein habe, die sozial Schwachen verlässlich abzusichern. Eigentlich müsste dies die Fans von Sarrazin doch sehr beruhigen, aber sie werden es wohl weiterhin ignorieren.
Nicht ganz wenige Kinder aus dem berufsstolzen, disziplinierten, traditionellen Arbeitermilieu der seinerzeit so genannten „Gastarbeitergeneration“ haben sich mittlerweile stärker nach oben gerobbt. Das Problem ist: Die Zugehörigen der neumittigen Migration haben sich mittlerweile von den Zurückgelassenen unten getrennt und kulturell distanziert. Die neue Mitte der Einwanderung ist ebenso wie das Zentrum der klassischen Mehrheitsgesellschaft darauf erpicht, sich nur in solchen Wohnquartieren niederzulassen, in denen der Ausländeranteil gering ist.
Und so bleiben auch in der Migration nicht ganz wenige – rund ein Viertel dürften es wohl mindestens sein – zurück. Hier wird am stärksten die Aussage bekräftigt, dass „Menschen mit einem Migrationshintergrund gerade in Deutschland Bürger zweiter Klasse“ seien. Es dominieren Männer, mit geringer schulischer Qualifikation, unzureichender beruflicher Ausbildung, entstammt vor allem aus der meist nur wenige Jahre zurückliegenden Einwanderung aus der früheren Sowjetunion und dem Ex-Jugoslawien. Die Deutschkenntnisse sind sehr gering; weder im Familien- noch im Freundeskreis wird hauptsächlich deutsch gesprochen. Man bleibt mithin unter sich, pflegt keine oder kaum Außenkontakte zu anderen Lebenswelten. Fast die Hälfte identifiziert sich mit dem Satz: „Mein Herkunftsland ist meine eigentliche Heimat; in Deutschland verdiene ich nur mein Brot.“ Eine ähnliche subkulturell geformte Lebenswelt – in der nur ein Viertel ein derartiges Bekenntnis abgibt – wird von jungen männlichen Türken geprägt, die größtenteils während der 1990er Jahre nach Deutschland gekommen sind, von denen aber auch überproportional viele hier bereits geboren wurden. Über die Hälfte besitzt nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, aber ihre Kenntnisse der deutschen Sprache sind bemerkenswert gut.
Dies ist unzweifelhaft der brisanteste Lebenszusammenhang. Hier hat sich ein Milieu junger, in ihrem Selbstverständnis unsicherer Menschen konstituiert, von denen sich viele vehement dagegen sträuben, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft adaptiv aufzugehen. Sie wollen sich nicht unter Druck assimilieren, verhalten sich renitent, demonstrativ provokativ. Diese Eigenkultur ist durchaus modern, aber sie akkulturalisiert mindestens Spuren oder Teilelemente auch der Traditionalität, des Rückgriffs auf Ethnie und religiösen Eigensinn, um sich von der verhassten Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen und dadurch vielleicht eine eigene, gewiss schwierige Identität zu konstruieren.
Also doch die Gefahr der „Parallelgesellschaften“? In Deutschland gelten „Parallelgesellschaften“ als Menetekel. Bemerkenswert daran ist, dass gerade die staatstragenden Sozialdemokraten und katholische Christdemokraten Geschöpfe eben solcher, von ihnen nun als unheilvoll beschworener Parallelgesellschaften, sind. Die katholischen und sozialistischen Bevölkerungsteile im mittleren Europa lebten lange – vom Beginn der 1870er bis in die 1950er Jahre – in „parallelgesellschaftlichen“ Eigenwelten, in einem ganzen System autonomer Vereine, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Dabei waren sie inspiriert und motiviert von durchaus fundamentalistischen, illiberalen Weltanschauungen bzw. Glaubensüberzeugungen.
„Parallelgesellschaften“ erleichtern ihren Mitgliedern den Wechsel in eine kulturell radikal anders geprägte Ordnung. Sie machen die sonst übermächtige Isolation erträglicher. „Parallelgesellschaften“ begründen einen Schutz- und Orientierungsraum. Sie geben den Einzelnen Gemeinschaft, stellen so soziale Beziehungen her, wirken dadurch stabilisierend, im Übrigen auch aktivierend. Ihre Kollektivität baut folglich Apathie und Resignation ab, reduziert die „negative Individualität“ der Moderne. In Einwanderungsgruppen ohne sozialräumliche Verdichtungsquartiere und integrative Infrastrukturen jedenfalls liegen Engagement und Energie brach.
Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass Ängste und Befürchtungen üblich, jedoch unbegründet waren. So haben zum Beispiel keine der „parallelgesellschaftlichen“ Enklaven jedenfalls die aufnehmenden Gesellschaften terroristisch zerstört, wenngleich die Befürchtungen, dass so etwas geschehen könnte, immer schon virulent waren. Und auch die Furcht vor Geburtenfreudigkeit in den segregierten Minderheiten war chronisch, so etwa bei der calvinistischen Elite in Holland gegenüber den plebejischen Katholiken im Lande. Indes: In den meisten Fällen ethnischer oder religiöser Kolonisierung führte anfängliche Segregation zur anschließenden Integration. Und das vollzog sich nicht nur bei Migrationsminderheiten, sondern auch in der innergesellschaftlichen Konfliktsegregation zwischen zuvor scheinbar antagonistisch polarisierten Weltanschauungsgruppen.
Alle neueren seriösen Forschungen stützten die Annahme, dass ethnische und religiöse Organisationen weitgehend zur politischen Eingliederung von Immigranten beitragen. In Deutschland sind die Moscheegemeinden die Immigrationsorte mit dem höchsten zivilgesellschaftlichem Engagement, wie gerade jetzt wieder ein Forschungsprojekt des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zum Thema „Wo ist die ‚Unterschicht‘ in der modernen Bürgergesellschaft“ signifikant deutlich gemacht hat. Gerade eine hoch entwickelte Organisationskultur in Parallelgesellschaften, dazu der Ehrgeiz, die eigene Position zu verbessern, führt oft genug zu einem schleichenden Abbau der parallelgesellschaftlichen Ausgangsbedingungen. An diesen interessenpolitischen Selbstorganisationen aber fehlt es in den abgesonderten Wohnquartieren der Republik, auch und ganz besonders der deutschen Unterschichten im Übrigen. Eine schlagkräftige Pressure-Group, eine unumstrittene, die Migranten repräsentierende Interessenvertretung, Kader der Prekarisierten, die deren Anliegen mit Nachdruck in die Öffentlichkeit einspeisen und Repräsentation sicherstellen würden, gibt es nicht. So gesehen aber ist die Parallelgesellschaftlichkeit in Deutschland derzeit organisatorisch eher unter- als überentwickelt.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.