Mehr als eine „Heimat für Hausarbeiten“

[präsentiert]: Severin Caspari über „360°. Das studentische Journal für Politik und Gesellschaft“.

Was dieses wissenschaftliche Periodikum zuvorderst auszeichnet ist, dass es eine Haltung hat. 360 Grad ist mehr als eine lose Sammlung von Texten zu völlig disparaten Themen, wie es der wissenschaftliche Leser von vielen einschlägigen Fachzeitschriften gewohnt ist. Jede Ausgabe des von A bis Z von Studierenden gestalteten Journals widmet sich vielmehr gezielt einem Thema. Die Beiträge kommen von Studierenden und Promovenden jeder Fachrichtung, wodurch eine hohe Dichte an Perspektiven – eben um 360 Grad – garantiert ist. In der Ausgabe für das erste Halbjahr 2012 ging es um „Grenzen“. Und schon im einleitenden Essay von Chefredakteur Angelo D’Abundo wird deutlich, dass 360 Grad mehr will, als Studierenden eine Möglichkeit zu bieten, auch mal einen Text mit Fußnoten irgendwo zu publizieren.

Dieser Text stellt nicht nur die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Heftbeiträgen her, sondern nimmt diese gleichermaßen als Anstoß für eigene Gedanken. Sofort gefällt dabei seine Sensibilität für die Wirkung von Sprache und Rhetorik. Was steckt eigentlich dahinter, wenn im Rahmen der Krise Europas allerorten von „Schuldensündern“ die Rede ist? D’Abundo fühlt sich hier unmittelbar an das Konzept der Oikodizee des im Heft interviewten Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl erinnert. Vogl deutet die heutige Ökonomie als Religion, inklusive dem Glauben an die Unfehlbarkeit der Märkte. So erklärt sich für D’Abundo auch die religiöse Rhetorik der Europapolitiker mit ihrer Verurteilung der Schuldensünder: „Als Sünder bezeichnet man im religiösen Kontext solche Menschen, die nicht nach den Gesetzen Gottes leben. Die Schuldensünder Südeuropas sind demnach vom Glauben an das Effizienz- und Wachstumsangebot des neoliberalen Kapitalismus abgefallen, ihre Rettung ist damit unausweichlich“ (S. 13).

„Heimat für Hausarbeiten“ schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung über 360 Grad. Das war nett gemeint und gibt die positive Funktion des Journals in einer Zeit, in der der Großteil der abgegebenen Hausarbeiten in der sprichwörtlichen Schublade verschwindet, angemessen wieder. Aber 360 Grad ist eben auch mehr. Und das liegt an der gesellschaftlichen und politischen Relevanz der Texte, die von der Redaktion aus allen Einsendungen für das Heft ausgewählt werden. Christian Knupp bringt die Debatte um die Grenzen des Wachstums und die drohende Knappheit von fossilen Brennstoffen auf den neusten Stand, während Katharina Kreymborg die rohstoffhungrigen Industrienationen auf ihrem „Goldrausch auf dem Meeresgrund“ kritisch begleitet. Florian Sprung und Nicola Tams streiten in einem Pro & Contra über die Möglichkeit des Ausschlusses von EU-Mitgliedstaaten und Manuel Marx illustriert exemplarisch anhand der FAZ-Berichterstattung zur Grenzschutzagentur Frontex, wie Worte zu Grenzen werden können. Dass Grenzen längst nicht mehr am Territorium eines Staates enden müssen, zeigt Fabia Schäufele am Beispiel von US-Behörden, die mithilfe von Fluggastdaten europäischer Fluglinien die Einreise unliebsamer Personen in die USA noch vor dem Abflug verhindern wollen. Um die Grenzen zwischen den Geschlechtern geht es schließlich in dem Artikel von Kerstin Bischl, in dem sie die teils prekäre Lage der russischen Rotarmistinnen in einer männlich dominierten Armee während des Zweiten Weltkriegs zum Thema macht.

Daneben gibt es Unkonventionell-Kreatives wie etwa den Beitrag über die exzesshafte Geldverschwendung des amerikanischen Blockbuster-Kinos als Wesensmerkmal kapitalistischer Wirtschaftslogik. Und es gibt wahrhaft Bemerkenswertes wie die kritische Auseinandersetzung von Juliane Löffler mit Intimchirurgie und gesellschaftlichen Schönheitsidealen. 360 Grad ist damit kein Ort wissenschaftlicher Nabelschau, sondern vielmehr Ausgangspunkt eines Dialogs zwischen junger Wissenschaft und politischer Öffentlichkeit. Dazu gehört vor allem, dass die Autorinnen und Autoren bemüht sind, sich einer verständlichen Sprache zu bedienen. Dieser zugegebenermaßen schwierige Spagat zwischen Fachsprache und Verständlichkeit gelingt allerdings nicht immer. Für den in der Lektüre wissenschaftlicher Texte ungeübten Leser dürfte es schwer sein, manchem Artikel zu folgen.

Dafür, dass der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit über das Setzen von Fußnoten hinaus gewährt bleibt, sorgen ein umfangreiches Lektorat sowie ein Netz aus Gutachterinnen und Gutachtern. Und dann gibt’s da auch noch schicke Illustrationen, die jeden Artikel individuell ausschmücken, sowie eine wirklich beeindruckende Fotostrecke mit Porträts südsudanesischer Soldaten… Was will man mehr?

Severin Caspari arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.