„Ein Glücksgriff für die Partei“

[nachgefragt]: Sebastian Kohlmann über die politische Karriere von Franz Münterfering

Du hast dich lange mit Franz Müntefering auseinandergesetzt. Worin lag die Faszination für dich?

Das spannende an Müntefering ist, dass er bis zum Alter von 55 Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung eigentlich nicht aufgetaucht ist. Niemand hätte gedacht, dass er in den folgenden 15 Jahren dann eine solche Karriere hinlegen würde.

Und wie sah diese Karriere aus?

Franz Müntefering trat mit 26 vergleichsweise spät in die SPD ein, wurde dann aber schon zwei Jahre später in den Sundener Stadtrat gewählt. Er machte über Jahre hinweg solide Lokalpolitik und kam dann 1966 als Nachrücker – eher durch Zufall – in den Bundestag. Als Bundestagsabgeordneter trat er in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung und bewies als wohnungsbaupolitischer Sprecher seinen Drang zur Kärrnerarbeit. Gleichzeitig festigte er die innerparteilichen Kontakte, insbesondere in seinem Heimatbezirk, dem Westlichen Westfalen.

Mit diesem Hintergrund avancierte er 1990 dann zum Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, wobei er die Parteispitze abermals positiv überzeugte. Sein erstes Ministeramt als Arbeitsminister in NRW wurde ihm – aufgrund seiner guten Vernetzung – 1992 angetragen; einmal mehr, ohne dass er sich darum hätte bemühen müssen.

Wie genau lief Münteferings politischer Aufstieg ab?

1995 wurde Müntefering zum Bundesgeschäftsführer der SPD. Ein Glücksgriff für die Partei, kann man im Rückblick sagen. Müntefering vermochte es zwischen 1995 und 1998 wie kein anderer, die Flügelstreitigkeiten in der Partei, insbesondere zwischen dem Schröder- und dem Lafontaine-Lager, zu überwinden. Dies äußerte sich auch in dem Wahlslogan „Innovation und Gerechtigkeit“. Aus der altbackenen SPD machte er in dieser Zeit fast so etwas wie eine moderne Dienstleistungsgesellschaft.

Nach der kurzen Episode als Verkehrsminister, 1998 bis 1999, wurde für Müntefering Ende 1999 – nach dem Rücktritt Lafontaines – von Schröder das Amt des Generalsekretärs geschaffen – ein Amt, das Müntefering auf den Leib geschneidert war. In dieser Position erlebte er den Höhepunkt seines Schaffens. Er ging seine Arbeit mit Begeisterung an, war in der Partei und bei der Basis beliebt und wurde bei Wahlen regelmäßig – etwas, was sich durch seine ganze Karrierephase zieht – mit mehr als 95 Prozent der Stimmen gewählt. Schröder gab ihm zudem weitreichenden Handlungsspielraum und bezeichnete ihn einmal als geschäftsführenden Vorsitzenden.

Gerufen wurde er dann auch 2002 in das Amt des Fraktionsvorsitzenden, eine Aufgabe die er aus Pflichtgefühl übernahm, mit der er zunächst jedoch fremdelte. Aber auch hier wurde er schnell zum Liebling, diesmal der Abgeordneten – zumindest in den ersten zwei Jahren bis 2004. Als die Agenda 2010 ausgearbeitet wurde, bremste er – anders als heute geschrieben wird – die Reformbemühungen Schröders teilweise aus; die Fraktion würde nicht alles mitmachen, war sein Argument. Erst nachdem die Agenda beschlossen worden war, zog er sie an der Seite Schröders konsequent – und auch gegen Einwände – mit durch.

Müntefering wurde 2004 Parteivorsitzender. Ein Amt, das er neben dem des Papstes als „das schönste“ überhaupt bezeichnete. Wieso begann hier dennoch sein schleichender Absturz?

Als er 2004 an die Spitze der von der Agenda 2010 zerrissenen Partei gerufen wurde, legte er sein Amt als Fraktionsvorsitzender dabei nicht ab. So kam es, dass er sich in einer Art doppelten Falle befand. Nicht nur hatte er sich bisher immer als „Anti-Schröder“ und Gegenstück zum polternden Kanzler inszenieren können, was jetzt zunehmend schwieriger wurde; er musste jetzt auch die Doppelbelastung der Führung von Partei und Fraktion schultern. Dies führte dazu, dass gerade letztere unter seinen – einige sagen „stalinistischen“ – Methoden zu leiden hatte. Für viele Gespräche, wie er sie in den ersten zwei Jahren seiner Zeit im Fraktionsvorsitz gesucht und geführt hatte, war keine Zeit mehr. Darin äußert sich auch eine Schwäche Münteferings: Er wollte Macht nicht teilen oder gar abgeben.

Nichtsdestotrotz erhielt er bei parteiinternen Wahlen weiterhin extrem hohe Zustimmungswerte, als Fraktions- und Parteivorsitzender wurde er wieder mit 90 plus X Ergebnissen bestätigt. Protest gab es erst ein Jahr später. Nach der Bundestagswahl 2005 wollte Müntefering seinen Getreuen Kajo Wasserhövel als Generalsekretär installieren. Als ihm dies nicht gelang, trat er als Vorsitzender zurück. Allerdings blieb er in Folge Vize-Kanzler und Arbeitsminister in der Großen Koalition. Erstmals schien nun nur noch das Regierungshandeln im Vordergrund seines Schaffens zu stehen. Aus privaten Gründen legte er dann 2007 alle politischen Ämter nieder. Ein Jahr später jedoch wurde er von seiner Partei, vor allem von Frank-Walter Steinmeier, wieder ins Boot geholt, als diese sich in diversen Führungsquerelen verheddert hatte.

Noch einmal also kam Müntefering– wie so oft in seiner Karriere – zurück, als die Partei schon am Boden lag und ihn „brauchte“. So war es 1992, 1995, 1999 und auch 2004 gewesen. Doch diesmal, im Jahr 2008, gab es aber nur noch bedingt die Chance, das Ruder herumzureißen. Die Geschichte Müntefering war auserzählt – das ewige „das ist ganz klar, dass wir die Wahl gewinnen“ wirkte überholt, frische Ideen waren nicht mehr da. Die Partei war in der öffentlichen Wahrnehmung durch die vielen Führungswechsel zudem nicht mehr positiv und als Konstante aufgefallen. Das Wahlergebnis 2009 hat somit viele Ursache und ist nicht einer einzelnen Person anzulasten.

Müntefering und die SPD schienen über Jahrzehnte untrennbar miteinander verbunden. Wie groß war sein Einfluss auf die Partei?

Münteferings Einfluss begann erst spät, war dafür aber umso größer. Vor allem 1998 war dieser äußerst positiv, da er den Wahlsieg mit vorbereitete und in dieser Zeit die Partei zusammenhalten konnte. Gleichzeitig jedoch gab es auch Schattenseiten: Überall da, wo er Ämter und Posten übernommen hatte, hinterließ er auch Wunden. Gerade durch seine Personal-, oder besser: Entlassungspolitik sorgte er für großen Unmut. Dennoch: Insgesamt war Müntefering stets zur Stelle, wenn er gebraucht wurde. Er übernahm alle Positionen, die ihm angetragen wurden – und füllte diese häufig gut aus.

Und welcher Typus Politiker war Müntefering? Stimmt beispielsweise das Klischee des selbstlosen Parteisoldaten?

Nein, das trifft nicht zu. Politik und Selbstlosigkeit gehen meiner Meinung nach nicht zusammen und auch ein Franz Müntefering hätte sich nicht bereits nach zwei Jahren in der Partei in den Stadtrat wählen lassen müssen. Allerdings kann man ihm tatsächlich unterstellen, dass er anstelle des eigenen lange Zeit mehr das Wohl der SPD im Blick hatte – anders beispielsweise als Schröder. Macht war bei ihm mehr das Mittel zum Zweck – nämlich der SPD zu dienen, sie nach vorne zu bringen. Er wurde nicht von konkreten Werten, sondern vom Glauben an die sozialdemokratische Grundidee bzw. vom Glauben an die SPD geleitet und angetrieben. Wenn es jedoch etwas gab, was ihm als Kompass diente und dient, dann war und ist es wohl das Bild des demokratischen Bürgers.

Das Interview führte Daniela Kallinich.

Sebastian Kohlmann ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Jüngst veröffentlichte er das Buch: Franz Müntefering. Eine politische Biographie, Göttinger Junge Forschung 9, ibidem-Verlag, Stuttgart 2011.