[analysiert]: Warum die Kandidatenbegeisterung der Sozialdemokraten infantil ist.
Eine Schwalbe, so sagt der Volksmund, macht noch keinen Sommer. Gemeint ist damit, dass ein einzelnes positives Ereignis noch nicht auf einen endgültigen Umschwung zum Besseren schließen lässt. Als Schöpfer des Sprichworts gilt der altgriechische Dichter Äsop, der in seiner Fabel „Der verschwenderische Jüngling und die Schwalbe“ einen Mann vorschnell just in dem Moment seinen Mantel verkaufen lässt, als er im Frühling die erste Schwalbe sieht. Fortan muss er frieren, weil es kalt bleibt. Die verfrüht zurückgekehrte Schwalbe stirbt.
Ein wenig erinnern derzeit die SPD und Martin Schulz an die Protagonisten dieses antiken Gleichnisses. Seit der frischgebackene sozialdemokratische Bundesvorsitzende und Kanzlerkandidat im Januar 2017 auf der bundespolitischen Bühne aufgetaucht war, glaubte die Partei – und glaubt wohl auch in guten Teilen immer noch – fest an den Anbruch einer Zeitenwende. Nach dem Urnengang im Saarland, dem elektoralen Frosteinbruch vom vergangenen Wochenende, zittern die Sozialdemokraten nun, ob ihre Hoffnungen mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst vielleicht trogen.
Auch die Medien – an dieser Stelle erscheint der Kollektivsingular angesichts der nahezu vollständigen Einstimmigkeit der Darstellungen angebracht – haben Schulz in den vergangenen Wochen wahlweise als Supermann, Alleskönner und Heilsbringer regelrecht verklärt. Und in den Redaktionsstuben ist die journalistische Begeisterung über das Ende der politischen Langeweile angesichts der sozialdemokratischen Umfragetristesse und über ein Spannung versprechendes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amtsinhaberin und Herausforderer ebenfalls von Sonntag auf Montag binnen weniger Stunden sehr viel skeptischeren Diagnosen gewichen. So spricht Heribert Prantl in der Süddeutschen abgeklärt vom Hype, der komme und gehe, und die FAZ sieht gar bereits das „Ende der Festspiele“ gekommen.[1]
Ebendies, dass Martin Schulz politisch schon an sein Ende gekommen ist, lässt sich freilich begründet durchaus bezweifeln. So hat die saarländische SPD zwar im Vergleich zur vorherigen Wahl mit 29,6 Prozent einen Prozentpunkt verloren, doch waren ihre Umfragewerte im Januar, also vor dem Wechsel von Sigmar Gabriel zu Schulz noch deutlich schlechter gewesen. Zudem haben die Sozialdemokraten in absoluten Zahlen gegenüber der Landtagswahl 2012 an Stimmen hinzugewonnen: Statt 147.000 votierten jetzt immerhin rund 157.000 Wahlberechtigte für sie. Und während dieser Zuwachs nicht einzig und allein Schulz geschuldet sein muss – wiewohl die Werte für die Landespartei, wie gesagt, noch zu Jahresbeginn erheblich schwächer ausfielen –, ermittelten die Demoskopen im Zuge ihrer Nachwahlbefragungen im Saarland mit direktem Bezug auf Schulz breite Zustimmung zu den Aussagen, er bringe frischen Wind in die Bundespolitik, sorge für eine größere Unterscheidbarkeit von CDU und SPD und vertrete in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die richtigen Positionen.[2]
Überraschend ist auch nicht so sehr der plötzliche Umschwung in der Medienberichterstattung. „Hype kommt, Hype geht“, diese bereits erwähnte Formulierung Prantls, ist genau besehen eine prägnante Beschreibung massenmedialer Darstellungslogiken. Die permanente Suche nach Neuigkeitswerten, Deutungshoheit, Originalität führt dazu, dass heute heruntergeschrieben wird, was gestern noch hochgejubelt wurde. Verblüffend sind eher die vollkommen maßlosen und grotesk naiv anmutenden Erwartungen, welche die Sozialdemokraten selbst an ihren neuen Spitzenmann adressieren. An das Phänomen der Boygroups in den 1990er Jahren erinnernd, versetzt Schulz die eigenen Parteifreunde in geradezu rasende Schwärmerei, wird ihm beinahe kultische Verehrung zuteil. Wer sich die Krönungsmesse des Berliner Parteitages vor Augen führt, mit ihrer nicht wie üblich inszenierten, sondern diesmal authentisch anmutenden Begeisterung, wer die vollkommen unironische Vorfreude betrachtet, mit der Parteimitarbeiter in der Provinz den Zwischenstopps des Schulz-Zuges in ihren Regionen und ihrer persönlichen Anwesenheit bei den anschließenden Kundgebungen entgegenblicken – wer all das bedenkt, der meint, anstelle der abgebrühten überraschungsresistenten Profis des hauptamtlichen Parteimittelbaus mit ekstatischen Fans im Pubertätsalter konfrontiert zu sein.
Ebenso, wie sich die kreischenden Teenager bei Boygroup-Konzerten in einer – in ihrem Fall jugendbedingten – Phase der Unsicherheit, Orientierungssuche und Identitätsfindung, befinden, so unschlüssig tappten im 21. Jahrhundert auch die Sozialdemokraten im Dunkel der politischen Frage, was nach der Agenda 2010 eigentlich noch originär sozialdemokratisch sei. Und in den Großen Koalitionen der Jahre 2005–2009 und 2013 ff. gesellte sich dazu noch der Hader darüber, bei Umfragen und bundesweiten Wahlen auf Tiefstwerten zu stagnieren, während der Koalitionspartner von Politikresultaten profitierte, die doch dem eigenen Selbstverständnis zufolge eine sozialdemokratische Handschrift trugen und insofern der SPD hätten zugutekommen müssen.
In dem Maße, in dem sich die Sozialdemokraten in ihrem anhaltenden Umfrage- und Zustimmungstief, bei Wahlkämpfen an den Tapeziertischen in den Innenstädten und insbesondere auch durch die Anfeindungen von ihren ehemaligen arbeiterschaftlichen Kernklientelen an den Rand gedrängt fühlten, sammelten sie Ausgrenzungserfahrungen: Die Zukunft (ihrer Partei) sahen sie gefährdet, wähnten sich auf sich selbst zurückgeworfen, zwischen allen Stühlen sitzend, randständig, angefeindet, in einer permanenten Minderheitenposition.
Insofern ist kaum verwunderlich, dass die Sozialdemokraten jetzt ihrem neuen Vorsitzenden claquieren, der öffentlichen Zuspruch, steigende Sympathiewerte, Machterwerb und auf diese Weise Selbstvertrauen, Stolz und neue Größe zu versprechen scheint.
Doch scheinen ebendiese Hoffnungen seit der Saar-Wahl zu zerstieben. Woran liegt das – und lässt es sich abwenden? Zunächst einmal liegt es nicht an einer gänzlich neuartigen Personalisierung, wie sie die Medien aktuell wieder beschwören – oder zumindest nicht in ebenjener Weise, in welcher sie beschworen wird. Ein hoher Eigenwert von Personen für den Stimmenanteil der Parteilisten ist an sich jedenfalls kein Spezifikum der Wahlen seit 2016. Nicht nur, dass Angela Merkel von ihrer Partei im Wahlkampf für das Europaparlament 2014 großflächig in den Vordergrund geschoben wurde, obwohl sie gar nicht zur Wahl stand. Schon 1957 plakatierte die CDU „Deutschland wählt Adenauer“.
Auch der berühmte Wahlspruch „Keine Experimente“ desselben Jahres lautete vollständig „Keine Experimente! Konrad Adenauer“ und prangte unter einem Porträt des amtierenden Kanzlers. Und derweil vier Jahre darauf, 1961, die FDP ebenfalls ganz auf Adenauer setzte, allerdings dezidiert negativ konnotiert („Mit der CDU/CSU ohne Adenauer“), kürte die SPD zeitgleich den populären Regierenden Bürgermeister Berlins, Willy Brandt, zum Kanzlerherausforderer, für den sie den Titel des „Kanzlerkandidaten“ etablierte – um ihn in der Wahlkampagne noch sichtbarer, klarer und eindeutiger als Person voranzustellen.
Von neuer Qualität ist eher schon das Ausmaß der Zustimmung für den Regierungschef und die Stärke des Personenbonus der Amtsinhaber, wie sie nahezu durchweg beiden jüngsten Landtagswahlen und keineswegs nur für das Saarland und Annegret Kramp-Karrenbauer messbar gewesen sind. Die Potenzierung des Amtsbonus dürfte eine Folge der zunehmenden Profilschwäche und inhaltlichen Ununterscheidbarkeit der parteipolitischen Wettbewerber sein – namentlich von CDU und SPD –, die sich für die Opposition, von der klar konturierte Alternativen erwartet werden, negativ auswirken und den jeweiligen Amtsträger bei einigermaßen akzeptabler Bilanz auch Zustimmung in denjenigen Wählersegmenten erhalten lassen, die eigentlich den Konkurrenzparteien zuneigen, grundsätzliche Differenzen in den politischen Lösungsvorschlägen aber nicht benennen können.
Apropos Willy Brandt: Der kluge Publizist und ehemalige Herausgeber der Welt-Gruppe, Thomas Schmid, hat vollkommen zu Recht als elementaren Unterschied zwischen Brandt und Schulz ausgemacht, dass Ersterer 1969, als er Kanzler wurde – und erst recht auf dem Gipfel seiner Popularität 1972 –, über ein klares inhaltliches Profil verfügt habe.[3] Brandt habe für klare Differenzen zu den Unionsparteien und zur Großen Koalition gestanden, für einen grundlegenden Wandel in der Gesellschafts-, Sozial- und Bildungspolitik, insbesondere aber für die neue Ostpolitik. Die Partei, der Brandt vorstand, schließlich habe Substanz und eine Zukunftsidee besessen. Nichts davon, so Schmid, ließe sich für die heutige SPD konstatieren. „Der neue, in Wahrheit sehr alte Ruf nach sozialer Gerechtigkeit vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die SPD schlicht kein Profil besitzt, das sie von der Union markant unterscheiden würde – am allerwenigsten in der Europapolitik.“ Und mit dieser Konturenarmut der Sozialdemokratie korrespondiere die Schwammigkeit der Schulz’schen Grundsatzreden.
Kurzum: Eine Programmpartei wie die SPD, in deren Selbstverständnis Prinzipien und ein daran ausgerichtetes politisches Handeln eine solch herausgehobene Bedeutung zukommt, kann nicht nach Art einer populistischen Protestpartei einzig auf die Popularität und das Charisma einer Lichtgestalt an der Spitze ausgerichtet werden. Die Sozialdemokratie muss sich wieder klar darüber werden, welche politischen Ziele sie auf welchem Weg für welche Zielgruppen erreichen will. Was unterscheidet die SPD ganz prinzipiell und grundsätzlich von den Unionsparteien? Und worin besteht folglich heute das genuin Sozialdemokratische in den verschiedenen Politikfeldern von der Innen- bis zur Außenpolitik, von der Sozial- bis zur Wirtschaftspolitik?
Derlei Klärungen lassen sich in den wenigen Monaten bis zur Bundestagswahl nicht bewerkstelligen, sie müssen unmittelbar im Anschluss an sie mit Fernblick auf das Jahr 2021 angegangen werden. Nur wenn die SPD und ihre Führung die erforderliche Geduld und Ausdauer für eine neue Profilbildung aufbringen, können sie hoffen, perspektivisch aus eigener Kraft wieder in das Kanzleramt einzuziehen. Vielleicht dann, 2021, ja mit Martin Schulz.
Dr. Matthias Micus arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Prantl, Heribert: Knall und Fall, in: Süddeutsche Zeitung, 27.03.2017; Altenbockum, Jasper v.: Ende der Festspiele, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.03.2017.
[2] Vgl. Willy-Brandt-Haus (Hrsg.): Landtagswahl Saarland 26. März 2017, Ergebnisse und Schnellanalysen auf Basis der Kurzfassung des Infratest-dimap-Berichts für die SPD, Berlin 2017.
[3] Hierzu und im Folgenden Schmid, Thomas: Mehr Show wagen. Was hat Martin Schulz mit Willy Brandt zu tun?, in: Die Welt, 11.02.2017.