Fußball und Bilder

Politik und Sport (2): Visuelle Inszenierung

[analysiert]: Lars Geiges über die politische Instrumentalisierung von Fußball.

Das Spiel war aus, da ging Angela Merkel los. Sie verließ die Ehrentribüne und stieg hinab ins Untergeschoss des Berliner Olympiastadions. Die Kanzlerin wollte der Nationalelf gratulieren. Kurz nach 23 Uhr an diesem Oktoberabend 2010 stand sie in der Umkleidekabine der Mannschaft. Deutschland hatte gerade das EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei mit 3:0 gewonnen. Um sie herum junge verschwitze Männer, oberkörperfrei, freundlich lächelnd, ein wenig schüchtern. Der Besuch soll nur ein, zwei Minuten gedauert haben. Was gesagt wurde, ist nicht übermittelt. Auch sonst weiß man nicht viel über die ungewöhnliche Kurzvisite. Woher auch? Es wurde ja praktisch nichts veröffentlicht. Gar Nichts? Fast nichts!
Denn dieses eine Foto schaffte es dann doch in die breite Öffentlichkeit. Ein offizieller Fotograf des Bundespresseamtes schoss es. Merkel hatte ihn mitgenommen. Auf dem Foto zu sehen: Die Kanzlerin, wie sie in der Umkleidekabine der Nationalmannschaft die Hand von Mesut Özil schüttelt. Was für ein Bild: Angela Merkel, die sonst streng geheime Umkleidekabine und der obenherum nackte Mesut Özil – das musste sich einfach verkaufen.
Das Foto war dann tatsächlich in fast allen Zeitungen zu sehen. Auch, weil die politische Großwetterlage danach war. Im Frühherbst 2010 war Deutschland eifrig dabei, das Buch von Thilo Sarrazin zu diskutieren, und erst drei Wochen vor dem Türkei-Spiel hatte Bundespräsident Christian Wulff in seiner viel diskutierten Rede zum Tag der Deutschen Einheit angemerkt, dass auch der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre. Das Land beschäftigte sich seinerzeit mit einer sogenannten Integrationsdebatte. Für Merkel konnte das nur bedeuten: An diesem Abend musste es einfach Mesut Özil sein, der neue Mittelfeldstar von Real Madrid, dessen Eltern einst aus der Türkei nach Deutschland kamen, der Junge aus Gelsenkirchen-Bismarck, der sich früh entschied, für Deutschland zu spielen und eben nicht für die Türkei. Gerade hatte er gegen das Heimatland seiner Eltern antreten müssen, spielte glänzend, gewann und schoss dabei ein Tor. Die Bundeskanzlerin gratulierte. Und ganz Deutschland sollte davon erfahren. Merkels Foto-Botschaft an die Nation: Das ist mein Deutschland – erfolgreich integriert, integriert erfolgreich.
Natürlich ist das alles nicht so einfach: Es liegt ja im Auge des Betrachters, was er aus dem Foto macht. Mag der eine die Geste als Zeichen des Respekts gegenüber der deutsch-türkischen Community deuten, kommt dem anderen beim Betrachten vielleicht als erstes Merkels Aussage in den Sinn, Multikulti sei in Deutschland gescheitert. Findet der eine den Kabinengang anbiedernd, entdeckt der nächste darin eine volksnahe Freundlichkeit. Fragt sich der eine, was Kanzlerinnen eigentlich in Männerkabinen verloren haben, finden es die nächsten sympathisch. Kurz: Die Reaktionen sind ambivalent, nicht wirklich planbar.
Umso bemerkenswerter, dass die gerade im Umgang mit Fotografen übervorsichtige, ja oft ruppige Angela Merkel sich regelmäßig in die Welt des Fußballs begibt. 2006 feierte sie mit der Mannschaft das „Sommermärchen“. Mit dem damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann verstand sie sich prächtig; auch zu Bastian Schweinsteiger pflegt die Kanzlerin seither ein inniges Verhältnis. Während der Euro 2008 saßen die beiden für ein Spiel nebeneinander auf der Ehrentribüne. Man witzelte, plauderte und unterstützte die Mannschaft gemeinsam vom Oberrang des Wiener Ernst-Happel-Stadions aus. Schweinsteiger hatte wegen einer roten Karte aussetzen müssen. „Sie hat mir gesagt, dass ich nicht wieder so eine Dummheit tun soll“, berichtete er hinterher mit einem Lächeln. Und Merkel ließ über ihren damaligen Regierungssprecher Ulrich Wilhelm ausrichten: „Die Kanzlerin schätzt die offene und ehrliche Art von Herrn Schweinsteiger.“
Dass Merkel regelmäßig die Spiele der Nationalmannschaft besucht, mag an ernsthaftem Interesse am Spiel liegen; doch verbindet sie mit ihren Stadionbesuchen und ihrer offensiv dargestellten Nähe zum Team ganz offenkundig auch die Absicht, vom Ansehen der DFB-Elf zu profitieren. Sonst würde sie ihre Auftritte vermutlich auf ein Mindestmaß reduzieren und nicht mal kurzfristig – so wie am vergangenen Mittwoch (6. Juni 2012) – für ein Abendessen ins polnische EM-Quartier der Nationalmannschaft nach Danzig reisen – um Glück zu wünschen, wie es offiziell hieß.
Es sind die Fotos die reizen. Tatsächlich liefert der Fußball fantastische Bilder. Es geht um Sieg und Niederlage, um Duelle und Pokale, um Erfolg und Pleite. Es geht um Emotionen, um Titel, Tränen und Tragödien. Was für ein Stoff. Und was für Bilder, die da wieder und wieder mit jedem Anpfiff aufs Neue produziert werden. Bilder, die Momente einfrieren; Bilder, die sich einprägen; Bilder, die im Tempo des Spiels den einen wichtigen Augenblick festhalten; Bilder, die abgespeichert in den Köpfen vieler von nun an nur auf Wiedervorlage warten. Bei Fußballfans – und ja, der Autor dieses Textes ist einer – funktioniert dieses Kopfkino ganz besonders gut. Schlagworte genügen. Man sagt „Wembley“ und schon geht’s los: Drehschuss, Unterkante Latte, kein Tor, der junge Seeler verlässt gebückt das Feld. Oder „Das Wunder von Bern“ – Wankdorf im Juli 1954: Sepp Herbergers regennasser Mantel, Toni, der Fußball-Gott und Rahn aus dem Hintergrund, der schoss, weil er einfach hatte schießen müssen. Oder „Gerd Müller“ und schon müllert’s dem Fußball-Fan vorm geistigen Auge: im Liegen, im Fallen, im Drehen. Mit dem Hintern erzielte er einmal einen Treffer. Der Bildspeicher der Fans erscheint jedenfalls unendlich.
Dass deutsche Kanzler versuchen, in dieser Gedankenmaschinerie ihrer potenziellen Wähler ein Plätzchen zu finden, dass sie in den entscheidenden Momenten des Erfolgs möglichst nah dran sein, dazugehören, dabei sein wollen, sodass auch sie möglicherweise mit den möglichen Siegen der Nationalmannschaft auf irgendeine Art in Verbindung gebracht werden, ist statthaft. Fußballer gelten als glaubwürdig. Der Blick zurück zeigt aber auch, dass nicht alle Kanzler so eifrig dabei waren wie Angela Merkel, aber auch, dass man sich deutlich ungeschickter anstellen kann als sie:

  • Konrad Adenauer war Boccia-Spieler und Rosenzüchter. Fußball blieb ihm immer fremd. Er könne einen Torpfosten nicht von einer Eckfahne unterscheiden, lästerte einmal die Zeit. Daran konnte auch das „Wunder von Bern“ nichts ändern. Ein dünnes, wenn auch freundliches Telegramm als Glückwunsch. Das war’s. Adenauer überließ die Begrüßung der Mannschaft um Fritz Walter im mit 90.000 Zuschauern voll besetzen Berliner Olympiastadion sowie die Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes dem Bundespräsidenten Theodor Heuss.
  • Ludwig Erhard war da schon anders. Er verfolgte den Ballsport, soll montags den Kicker und erst danach den Spiegel gelesen haben. Allerdings tat er dies privat, als Hobby neben der Kanzlerschaft, wenn man so will. Als Deutschland 1966 gegen England das WM-Finale ausspielte, weilte Erhard im Urlaub am Tegernsee. Von seinem Nachfolger Kurt Georg Kiesinger ist hingegen keine Fußballleidenschaft bekannt. In dessen Amtszeit fiel lediglich die Europameisterschaft von 1968, für deren Endrunde Deutschland sich gar nicht erst qualifizierte.
  • Keine Ahnung vom Fußball hatte Willy Brandt. „Er hat schon mal hingeguckt, wenn ein wichtiges Spiel im Fernsehen lief, aber überhaupt nichts verstanden“, sagt sein Sohn Matthias Brandt, der von seinem Vater beim Thema Fußball zu Rate gezogen wurde. Im Mai 1974 erklärte Brandt seinen Rücktritt. Zwei Monate später gewann Deutschland das WM-Endspiel gegen die Niederlande. Der neue Kanzler Helmut Schmidt hielt sich da – wie auch bei folgenden Fußballturnieren – im Hintergrund. Jubelgesten sah man von ihm keine.
  • So richtig begann es erst mit Helmut Kohl. 1986 witterte er seine Chance, flog mit der Regierungsmaschine nach Mexiko-Stadt, um beim WM-Finale gegen Argentinien vor Ort zu sein. Doch Argentinien hatte Diego Armando Maradona, Deutschland nur Hans-Peter Briegel. Die Südamerikaner gewannen das Spiel verdient, und Kohl erntete für seinen Auftritt Spott: „Wie der klassische Ranschmeißer“ habe der Kanzler gewirkt, meinte etwa der Spiegel. Er sei über Torwart Toni Schumacher hergefallen wie der „Hustinetten-Bär“. Nur Felix Magath habe „mit einer eleganten Körpertäuschung ausweichen“ können. Vier Jahre später – beim vielumjubelten WM-Sieg in Italien – drängte sich Kohl dann in die Kabine. Der Kanzler wirkte fremd zwischen den feiernden Littbarski, Matthäus und Brehme, die ihm allerdings ein Ständchen brachten und sangen: „Helmut, senk den Steuersatz“.
  • Gerhard Schröder aber hatte schlichtweg Pech. Zwischen 1998 und 2005, die Jahre seiner Kanzlerschaft, darbte der deutsche Fußball. Es war die Zeit der Ribbecks und Völlers, der „Käse, Scheißdreck, Mist“-Reden. Dabei war Schröder anscheinend seit langem bereit. Bereits 1992 versenkte er als junger Ministerpräsident in einer Halbzeitpause Bälle vom Elfmeterpunkt, trug dazu lilafarbenen Trainingsanzug und Stollenschuhe mit den Dreistreifen. Dass er unter dem Beinamen „Acker“ im Kreis Lippe-Detmold als junger Mann ein schussstarker Mittelstürmer für die TuS Talle von 1923 gewesen sein soll, wurde häufig berichtet. Bier und Bolzen waren Schröder schon immer vertraut. Er hätte „Sommermärchen“-Kanzler sein können. Doch er wollte vorzeitige Neuwahlen. So blieben ihm allein das verlorene WM-Finale im fernen Tokio 2002 und natürlich der Bundesliga-Alltag. Da fiel Schröder allerdings vor allem durch Beliebigkeit auf: In Cottbus trug er den rot-weißen Schal vom FC Energie. In Dortmund hüllte er sich jubelnd in Schwarz-Gelb. Daheim in Hannover bei den Spielen von 96 war er natürlich „ein Roter“.

Lars Geiges arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.