Eine sozialdemokratische „Generation Berlin“?

 

Thema: 20 Jahre Berliner Republik (3)

[präsentiert]: Franz Walter über die sozialdemokratischen „Youngster“ der Berliner Republik

Vorbemerkung der Redaktion: Als Bundestag und Bundesregierung 1999 von Bonn nach Berlin umzogen, trat eine Gruppe junger sozialdemokratischer Parlamentarier um Hubertus Heil und Hans-Peter Bartels mit dem Anspruch an die Öffentlichkeit, eine politische „Generation Berlin“ zu bilden. Sie hatten sich diese Formel seinerzeit vom Soziologen Heinz Bude geborgt. Ihren organisatorischen Zusammenhang titulierten sie bald als „Netzwerk Berlin“, ihrer Zeitschrift gaben sie den Namen „Berliner Republik“. Auf einer Art Gründungskongress im September 1999 hatte die Gruppe Franz Walter, neben Heinz Bude, um ein Referat hierzu gebeten. Walter kommentierte damals die Selbst-Sinngebung der sozialdemokratischen „Generation Berlin“ kritisch. Wir dokumentieren im Folgenden seine damalige Rede, gleichsam als eine kleine zeitgenössische Quelle aus der Konstituierungsphase der sogenannten „Berliner Republik“.

Vorab ein Geständnis: Ich bin nur mit großer Skepsis, ja einer Menge Unlust zu dieser Diskussionsveranstaltung gefahren.  Das hat natürlich und ganz zuerst damit zu tun, dass jeder externe Termin immer eine zusätzlich Belastung bedeutet, die man gern vom Hals haben möchte. Aber das ist es nicht nur. Auch der Begriff „Generation Berlin“ hat mich abgeschreckt. Da steckt mir zu viel Feuilleton drin. Und da war noch etwas, was mir nicht gefiel: der Anspruch der Veranstalter, der sogenannten Youngster, eine neue Generation zu begründen, die Generation also, die auf 1968 folgt.

Eins einte sie aber doch: die Lust an der Provokation an sich und das Anti-Institutionelle. Um noch einen Schritt weiterzugehen: All das hat nach meiner Überzeugung auch den Neoliberalismus gefördert, hat ihm zumindest ein bisschen den Weg bereitetet in seinem Eifer, alle institutionellen Begrenzungen, Regeln und Steuerungsmöglichkeiten des Marktes zu desavouieren. Und um soviel vorzugreifen: Insofern wäre für mich eine Aufgabe der Youngster, die Bedeutung von Regeln, Normen, Institutionen für ernsthafte – und eben nicht nur provokative, nonchalante oder mediale – Politik wieder stärker zu betonen.

Nun ist der Begriff „Generation“, wie man weiß, mittlerweile in der Publizistik, aber auch in der Soziologie und Geschichtswissenschaft so eine Art Modewort, weniger pejorativ: ein interpretatorischer Schlüsselbegriff zur Sortierung politischer Einstellungen und Gruppenbildungen geworden. Wie immer, wenn etwas zu häufig gebraucht wird, hat man am Ende einen Verlust an Konturenschärfe und Erklärungskraft zu beklagen. Jedenfalls hat es schon Sinn, mit dem Topos „Generation“ schonend und präzise umzugehen. Und als Traditionalist aus der Provinz würde ich auch hier konservativ verfahren und bei der alten Mannheimʼschen Deutung bleiben. Gleiche Jahrgänge bilden noch lange keine Generation. Dazu müssen ganz offenkundig erst einschneidende politische oder gesellschaftliche Schlüsselerlebnisse in den prägenden Jahren der Sozialisation hinzukommen, die eine Kohorte gemeinsam wahrgenommen hat. Und wenn diese Kohorte diese Schlüsselerfahrung kollektiv verarbeitet, dafür einen ganz spezifischen kulturellen und habituellen Ausdruck findet, wenn sich das alles noch zu besonderen Handlungsmustern verdichtet, zu Konflikten und Aktionen steigert, die den Gegensatz zum Establishment einer älteren Generation sehr handfest und nachdrücklich erfahrbar machen, dann – und nur dann – wird sie zu einer „Generation“.

Generationen haben alle ihren besonderen Mythos, die Erinnerung an die großen Kämpfe gegen das juste milieu, an die Orte des großen gemeinschaftlichen Kults (der „Hohe Meißner“ des Wandervogels, das „Weimar“ der arbeiten Jugend, das „Woodstock“ der Pop- und 68er Kohorte). Generationen haben nicht selten ihre Märtyrer, in jedem Fall haben sie ihre eigenen Rituale und eine eigene Metaphorik. Und in aller Regel haben sie, zumindest aus der post-festum-Perspektive, legendäre Führungsgestalten, die die ganze Kultur des Generationskonflikts aufnehmen und charismatisch ausdrücken.

Nichts davon scheint mir auf die heutigen und hier in Teilen ja anwesenden SPD-Youngster zuzutreffen. Das große zusammenschweißende Schlüsselerlebnis hat es bislang nicht gegeben, das soll erst nachgeholt werden, eben durch die – um es ein wenig bösartig zu formulieren – Gemeinsamkeit der Abgeordnetenbüros in Berlin. Das ist zumindest historisch neu, dass eine Generation sich schon einmal präventiv, prophylaktisch bildet, in kluger Antizipation des integrativen Erfahrungsschubs.

Bei der sozialdemokratischen Vorgängergeneration war das noch anders, verlief das klassischer. Sie kannten sich alle schon lange, aus unzähligen gemeinsam ausgetragen Konflikten, auch durch eine Vielzahl von Demonstrationen und Kundgebungen, besonders auch aus dem Vollzug von jahrelangen Intrigen, Rivalitäten und Gehässigkeiten. Als die „Enkel“ Anfang der achtziger Jahre in den Bundestag kamen, da kannte jedenfalls jeder den anderen ganz genau. Wenn ich es recht sehe, dann sind sich die Youngster der späten neunziger Jahre größtenteils im Fraktionssaal der SPD erstmals begegnet. Das muss kein Nachteil gegenüber der nachgerade neurotisierenden Dauerbegegnung der Vorgänger sein. Aber es weist eben nicht auf die kollektive Gemeinsamkeit einer Generation hin.

Und so kann man das ja weiter durchdeklinieren: Es fehlt der großen Generationenkampf, es fehlen die Schlachten, die den Mythos einer Generation ausmachen. Es fehlt so etwas wie ein Ritus, ein eigenes Programm, eine eigene Sprache, ein eigenes Flair. Die Vorgänger waren einfach schon quantitativ zu groß, in Gesellschaft und Politik zu breit, zu dominant, zu mächtig. Und dann kann man noch all die üblichen Erklärungen für das Fehlen einer neuen Generationenkultur hier aufführen, dass die Jugend seit den achtziger Jahren fragmentiert ist, in unzählige Subkulturen zerfällt, Identitäten sich durch die marktförmige Verwertung in ganz kurzer Zeit schon verschleißen, dadurch ist alles kurzlebig, tribalistisch, ohne Dauer. Und durch diesen Mangel an Zahl und Gewicht war kaum eine Gegengeneration hinzubekommen. So sind dann also die Youngster wahrscheinlich oft genug still leidend, wie ich vermute, im Windschatten der 68er aufgewachsen, als deren fleißige und sicher sehr sachkundige Referenten, Mitarbeiter, Hilfskräfte. Ein vorwärtsdrängender Leitwolf, der seine Kohorte auf die Barrikaden führt, kann da nicht recht heranwachsen.  Jetzt wiederum fehlt schon fast der Gegner, der noch einmal formierend wirken könnte. Die 68er sind mittlerweile müde und glauben selbst nicht mehr an das, was sie lange vertreten haben. So mangelt es nun an einem Feindbild, das jugendliche Kohorten aber brauchen, um zur Generation zu wachsen.

In den achtziger und frühen neunziger Jahren hätte es nahegelegen, wäre es vielleicht auch wünschenswert gewesen, wenn eine neue sozialdemokratische Generation den politischen Mainstream der „Enkel“ herausgefordert hätte. Aber da kam nichts. Die Jusos blieben die ewige Kopie des Siebziger-Jahre-Verbandes. Und so wurden alle Korrekturen der Politik, die die SPD in den letzten Jahren erlebt hat, von den Enkeln selbst noch vorgenommen. Die Enkel haben all das, wofür sie über zwanzig Jahre in irgendwelchen Hinterzimmern und auf Bezirks- und Landesparteitagen agitiert und intrigiert haben, über den Haufen geworden, als sie dann endlich in den Kabinetten saßen. Da hat kein Youngster mitgewirkt.

Am deutlichsten sah man das im März [1999, Anm. der Redaktion] auf dem Bonner Parteitag, der Schröder zum Vorsitzenden wählte und auf dem es um den Kampfeinsatz in Jugoslawien ging. Da stritten ganz überwiegend die gleichen Leute wie schon 1979 oder 1982 über die Nachrüstung. Nur saßen sie inzwischen in zwei unterschiedlichen Lagern. Allein zwei neue Gesichter sind mir aufgefallen, die noch Ende der siebziger Jahre nicht von der Partie waren: Benjamin Mikfeld und Andrea Nahles. Aber von der Gruppe derjenigen, die sich hier Youngster nennen und die wohl mehrheitlich so etwas wie einen neuen Realismus in der SPD vertreten – so genau weiß ich das aber nicht -, war niemand in der Bütt. Ich fand das damals ziemlich bedrückend.

Nun hat mir der Leiter dieser Diskussion vorher aber auch gesagt, ich solle nicht ganz so defätistisch argumentieren. Es handle sich schließlich um eine neue Gruppe, gewissermaßen ein zartes Pflänzchen in der Sozialdemokratie, das man nicht gleich durch rüde und unbarmherzige Attacken zertreten solle. Damit hat er natürlich Recht. Und daher habe ich mir auch überlegt, worin eigentlich auch ein Vorzug liegen mag, eben nicht „Generation“ in diesem klassischen Sinn zu sein. Außerdem ist es sowieso so, dass Generationen in diesem eher mythologisierten Sinne gar nicht allzu häufig aufgetaucht sind im modernen Deutschland. Und davor gab es sie sowieso nicht. Man erinnert sich an „Sturm und Drang“, an das „junge Deutschland“, vor allem natürlich an den „Wandervogel“, auch an die „Bündische Jugend“, natürlich an die 68er. Das war es dann schon eigentlich.

All diese großen, oft genug literarisch verklärten Generationen hatten eine Menge Fehler: Es gab stets unzählige Spaltungen und erbitterte Gruppenkämpfe. Immer wieder rutschten sie in exaltierte Dogmatismen und Sektierereien ab. Ihre Anführer waren häufig genug bizarre, weltfremde und konfuse Sonderlinge. Vor allem: All diese Generationen waren in erster Linie Träger von Kulturbewegungen, sie waren außerordentlich unpolitisch. Mir jedenfalls fällt kein bedeutender Politiker der Weimarer Republik ein, der aus dem Wandervogel hervorgegangen wäre. Welcher der herausragenden Politiker der frühen Bundesrepublik war in den bürgerlich-autonomen Bünden der zwanziger und dreißiger Jahre sozialisiert worden? Und weiter: Welcher prominente 68er hat politisch schon etwas Bemerkenswertes zustande gebracht? Auch da fällt mir so recht keiner ein.

Aber, so wird mancher hier sich zumindest leise gefragt und eingewandt haben, sind nicht die 68er jetzt an der Macht, eben die „Enkel“, über die ich selbst schon einiges gesagt und dabei immer mit 68 identifiziert habe? Das habe ich tatsächlich gemacht, aus – allerdings nicht entschuldbarer – Bequemlichkeit, eben weil diese Assoziation so geläufig ist und daher nicht lange begründet werden muss. Aber ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass es stimmt. Ich glaube nicht, dass die Schröders, Lafontaines, Klimmts, früher Engholms, oder wie immer sie auch heißen, 68er sind. Die ganzen Leute aus der führenden Juso-Riege der siebziger Jahre waren keine 68er. Sie sind überwiegend längst vor 1968, in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, in die SPD eingetreten und politisch geformt worden. Die gegenwärtigen Anführer der SPD sind doch fast durchweg Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre geboren worden. So waren sie 1968 fast schon dreißig Jahre. Da war man, gerade in dieser Zeit, schon ein ziemlich fertiger Mensch, da war die Identitätsbildung längst abgelaufen. Die m.E. entscheidenden Jugendjahre hat die aktuelle SPD-Elite in den späten fünfziger Jahren erlebt.

Damals gab es schließlich auch eine Jugendkultur, die allerdings nicht so berühmt wurde wie 1968, weil sie sich nicht im Bildungsbürgertum abspielte, sondern mehr in der Unterschicht, besonders stark übrigens in Arbeiterfamilien, in denen der Vater durch den Krieg nicht mehr da war. Solche Schichten haben nicht viel literarische Produktionen hervorgebracht und hinterlassen. Daher scheinen sie unbedeutender als diese bildungsbürgerlichen Proteste. Aber das täuscht. Wie auch immer: Die Kultur der Jugendlichen der späten fünfziger Jahre, die Phase, in der sich unsere „SPD-Enkel“ biographisch orientierten, war halbstark.

Es war die Zeit der Halbstarkenproteste, der Halbstarkenmusik, des Halbstarkenhabitus. Man war schnodderig, lässig, provokativ, furchtbar großmäulig. Man fuhr mit dem Moped die Straße rauf, die Straße runter. Und ja, das ist es, was mir zur Politik der gegenwärtigen Regierung seit dem September 1998 gleichsam reflexartig einfällt. Sie ist halbstark. Straße rauf, Straße runter. Große Klappe, schnodderig. Nichts ist wirklich ernst. Ich will ja nicht, dass hier die Youngster Ärger bekommen mit einer solchen Veranstaltung, wenn hier etwas Despektierliches über den Kanzler, den Fraktionsvorsitzenden oder den neuen Bauminister gesagt wird. Aber ich kann nicht anders: Das sind doch keine 68er, das sind eher schon Halbstarke. Übrigens ist die ganze bundesdeutsche Elite voll davon.

Der Klaus Zwickel von den Gewerkschaften, früher der Steinkühler, natürlich Hans-Olaf Henkel, Lothar Späth, Roland Berger, Manfred Bissinger, Manfred Krug oder auch Ulli Wickert, vom Alter her alles Halbstarke. Das ist das Problem unserer Gesellschaft. Hier haben überall Halbstarke das Sagen. Nun haben kluge Historiker von Jugendkulturen festgestellt, dass Halbstarkenproteste und der 68er-Aufstand Protest einer Generation war, ausgetragen nur von unterschiedlichen sozialen Gruppen darin.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Die dokumentierte Rede stammt aus dem September 1999.