Themenschwerpunkt „Populismus“
[debattiert]: David Bebnowski über die Fehler der demokratischen Öffentlichkeit im Umgang mit den Thesen Thilo Sarrazins
Es ist verstörend. Jeder fünfte Deutsche würde eine Protestpartei wählen, wenn sie von Thilo Sarrazin geführt würde. Die großen deutschen Zeitungen erhalten bergeweise Zuschriften, die dem Vernehmen nach an Fanpost erinnern. Thilo Sarrazin selbst darf seine Thesen in den großen deutschen Polittalkrunden aufbereiten. Der Politprovokateur hat augenscheinlich einen Nerv getroffen, indem er die bestehenden Integrationsprobleme thematisierte. Da tut es keinen Abbruch, dass dies in einer bisweilen rassistischen Zuspitzung geschah. Denn, so die weit verbreitete Meinung, die Probleme lassen sich nicht leugnen. Nach Ansicht vieler Politiker gehe es deswegen nun darum, zu einer sachlichen Debatte um die Versäumnisse der deutschen Integrationspolitik überzuwechseln.
Aber genau dies sollte nachdenklich stimmen. Denn es bedeutet nichts anderes, als dass Sarrazins islamophobes Vorpreschen bis zur Grenze der Fremdenfeindlichkeit die politische Klasse dazu bewegt, seiner Intention Folge zu leisten. Auf diese Weise sieht es nun so aus, als ob tatsächlich Sarrazin wichtige Diskussionspunkte in die Debatte gebracht hätte. Dabei wurden die Probleme der Integration auch schon lange vor ihm thematisiert. Denn natürlich gibt es Probleme mit der Eingliederung von Migranten, selbstverständlich existieren Parallelgesellschaften, bestehen zutiefst problematische familiäre Strukturen und entziehen sich Menschen dem Rechtsstaat. Immer noch liegt in Deutschland im Faktor Herkunft die Zukunft jedes Kindes begründet. Wer würde hier ernsthaft widersprechen?
Gleichwohl wurde die Diskussion um Sarrazins Thesen so geführt, als ob diese Probleme durch weite Teile der Öffentlichkeit verleugnet wurden. Tatsächlich präsentierten vor allem Bild und Spiegel Sarrazin als Tabubrecher, der endlich den Finger in die Wunde der bornierten „Gutmenschen“ gelegt hätte. Aber durch die Hysterie in der Diskussion, das schrille „man wird ja wohl noch sagen dürfen“, geht man dem Rechtspopulismus auf den Leim und leistet ihm Vorschub. Sarrazin wird auf den Schild gehoben, die Politik kann in der nun folgenden Auseinandersetzung mit ihm kaum mehr anders, als Zugeständnisse an ihn zu machen. So kann der Debattenverlauf schon jetzt als Erfolg für Sarrazin gelten, werden doch endlich seine alten Forderungen diskutiert. Zu guter Letzt steht ein härterer Umgang mit den vermeintlichen Nicht-Willigen, „Unintegrierbaren“, den Produzenten der „Kopftuchmädchen“, im Raum. Die Position des Provokateurs wird aufgewertet, und rückwirkend erhält so auch seine Vorgehensweise Recht. Für den Rechtspopulisten ist es eigentlich ziemlich einfach, die Ablaufmuster einer nach Sensationen gierenden Medienlandschaft für sich zu nutzen.
Natürlich bedeutet all dies nicht, dass Sarrazin nicht widersprochen, dass keine Debatte geführt werden sollte. Aber neben einer Kritik der Medien muss man auch Fragen an die Politik richten. Wo sind in diesem Moment die Politiker, die sich seit Jahren um die Integration der Ausländer bemühen? Sie müssten schon aus reinem Selbstzweck in die Öffentlichkeit treten und ihre Arbeit, die ja auch eindeutige Fortschritte vorweisen kann, verteidigen. Die Parteien sollten entschlossen und emotional diskutieren. Woran ließen sich eigene Standpunkte besser deutlich machen – ein Profil schärfen – als an dieser Diskussion? Was vor allem in den ersten Wochen nach der Präsentation von Sarrazins Thesen zu beobachten war, kommt jedoch einer kampflosen Aufgabe des politischen Feldes gleich. Es erscheint, als ob gelähmte Gegner darauf vertrauten, dass es so schlimm schon nicht kommen würde. Und es stellt sich die Ahnung ein, dass die Thesen Sarrazins eine erhebliche Menge an Befürwortern in weiten Teilen der Bevölkerung besitzen.
Es macht verlegen, dass man die politischen Stimmen, die schwächere Bevölkerungsgruppen vor den Angriffen rechtsradikaler Polemik schützen, nur undeutlich vernimmt. Wer spricht für die vielen Muslime, die einen nachgerade „überdeutschen“ Aufstiegs- und Integrationswillen vorweisen, wie jüngst die Studie „Wo ist die ‚Unterschicht‘ in der modernen Bürgergesellschaft?“ herausstellte? Eigentlich wäre dies eine Paraderolle der SPD, die in der gegenwärtigen Situation vor allem reflexartig auf das Mittel des Parteiausschlusses vertraut und darauf hofft, dass der Kelch namens Sarrazin an ihr vorübergeht. Zudem macht Sigmar Gabriel durch seinen Plan, eine groß angelegte Integrationsdiskussion anzustoßen, dem Renitenten wiederum ein Zugeständnis. Dem Rechtspopulismus muss man anders Einhalt gebieten.
Schon jetzt kann es traurig machen, wie viel Schmutz ungestraft über muslimische Migranten ausgeschüttet wird. Zur Verteidigung dieser Standpunkte ziehen sich die Apologeten Sarrazins häufig auf die freie Meinungsäußerung zurück. Diese bedeutet jedoch nur zum Teil das, was in den letzten Wochen zu beobachten war. Natürlich darf Thilo Sarrazin seine rechtspolitischen Standpunkte äußern – aber in diesem Fall bedarf es einer politischen Opposition, die seinen Ansichten differenziert und entschieden, mitunter gleichsam polemisch, entgegentritt. Franz Walter hält fest, dass Populisten ein Gespür für unrepräsentierte Standpunkte besitzen. Gleichzeitig heißt dies jedoch längst nicht, dass man einem Rechtspopulisten Zugeständnisse machen sollte, ihn gar ob seiner integrativen Rolle rühmen müsste.
Vielmehr hätte eben hier eine harte politische Auseinandersetzung anzusetzen. Wir beobachten jedoch einen Rückzug in juristische Winkelzüge wie Parteiausschlussverfahren oder halbseidene politische Deals. Freie Meinungsäußerung ist kein Synonym für Akzeptanz, gar Gleichgültigkeit, sondern eröffnet erst die Möglichkeiten der offenen politischen Auseinandersetzung, dem sicher nicht immer sauberen Kampf um politische Positionen. Dass dieser Kampf gekämpft werden muss, wurde in weiten Teilen der Debatte um die Thesen Sarrazins vergessen – eben dies ist ein Zugeständnis an den Populismus.
David Bebnowski ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung