2001 im Wendland, über 24 Jahre nach der Standortbenennung für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ in Gorleben durch den damaligen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, welche den Beginn des Anti-Atomwiderstands im Landkreis Lüchow-Dannenberg markierte: Gleich zwei Castortransporte rollten in diesem Jahr gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung und begleitet von einem kostenintensiven Polizeieinsatz durch den Landkreis und wurden unter anderem durch Schienen-, Straßen- oder Sitzblockaden aufgehalten.[1] In Lüchow wurde das Gorleben Archiv im Juli dieses Jahres als eingetragener Verein gegründet, getragen und mit Material versorgt durch unterschiedliche Gruppen und Personen des Widerstands: Neben der Bürgerinitiative (BI) Lüchow-Dannenberg oder der Bäuerlichen Notgemeinschaft auch von Marianne Fritzen, der wohl bekanntesten Aktivistin des Anti-Atomwiderstands im Wendland.[2]
In der Rückblende war die Archivgründung wohl unumgänglich, wollte man die Bewahrung der Widerstandsgeschichte in der eigenen Umgebung realisieren: Ein knappes Vierteljahrhundert politische, gesellschaftliche und juristische Auseinandersetzungen um die im Landkreis Lüchow-Dannenberg geplanten sowie teilweise verwirklichten Atomanlagen lagen 2001 bereits hinter den AkteurInnen und Gruppen der Anti-Atombewegung, allerhand Material hatte sich angesammelt, von Pressedokumentationen über Fachbücher zu Atomenergie und -widerstand bis hin zu Exponaten des Anti-Atomprotests wie Transparenten, Plakaten oder Aufklebern. Diese befanden sich meist in Privatbesitz und sollten durch das Archiv gesammelt, und der Allgemeinheit verfügbar gemacht werden.[3] Inzwischen ist das Archiv selbst ein Teil der vielen den wendländischen Anti-Atomwiderstand tragenden lokalen Initiativen, aus denen es 2001 hervorging.
Der Vereinszweck ist laut Satzung die „Sicherung und Sammlung des inzwischen historisch bedeutsamen Materials über den Protest gegen die Umweltgefahren im Landkreis Lüchow-Dannenberg in Wort und Schrift, Bild, Foto und Film“, die Archivierung von erhaltenem Material, die „Durchführung wissenschaftlicher Veranstaltungen und Forschungsvorhaben“ sowie die „Vergabe von Forschungsaufträgen“[4]. Inzwischen besteht das Gorleben-Archiv in Lüchow, der Kreisstadt des Landkreises Lüchow-Dannenberg, seit knapp 17 Jahren als unabhängiges Archiv und steht der Forschung sowie der Öffentlichkeit uneingeschränkt zur Verfügung.[5] Die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sowie eine hauptamtliche Mitarbeiterin haben seither über 70.000 Fotos, über 3.000 Stunden Film- und Tonmaterial, über 550 Plakate sowie mehrere 10.000 Dokumente aus Gruppen- und Personenbeständen erschlossen.[6]
Dabei wurde das Archiv von seinen GründerInnen und Förderern, etwa von politischen Stiftungen wie der Umweltstiftung Greenpeace, von Beginn an nicht als von der Anti-Atomkraftbewegung entkoppelt arbeitend verstanden, sondern als Teil dieser begriffen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in aktiver Öffentlichkeitsarbeit. So ist das Archiv auf wichtigen Veranstaltungen im Wendland, wie etwa der Kulturellen Landpartie, präsent und steuert regelmäßige Kolumnen zur Bewegungszeitschrift Gorleben Rundschau bei.[7] Im Jahr 2015 appellierte das Archiv angesichts weiterer politischer Präferenzen für ein „Endlager“ in Gorleben in der lokalen Presse an Barbara Hendricks: Die damalige SPD-Bundesumweltministerin solle dem Archiv wie andere PolitikerInnen einmal einen Besuch abstatten, um Gorleben aus der Liste denkbarer Standorte für ein Atommüllendlager zu streichen und „bei uns lernen, wie man es nicht macht“[8].
Das Gorleben-Archiv begreift sich nicht als Konservator „staubige[r] Akten“[9] , sondern eher als offen zugänglicher Ort der Erschließung und Bewahrung der regionalen Geschichte und der Identitätsstiftung einer Bewegung, an dem man auch „eine Führung zur Geschichte des Anti-Atomwiderstands im Wendland bekommen kann“, so die Archivleiterin Birgit Huneke im Interview. Das Archiv sei jedoch kein Museum und wolle dies auch nicht werden, da der Konflikt um Gorleben „noch nicht abgeschlossen ist“, jedoch stehe die Einrichtung allen offen, sogar den „Betreibern“ genannten Opponenten der Anti-Atombewegung.[10]
Zumindest in der wendländischen Anti-Atombewegung ist die Arbeit des Archivs also auch damit verbunden, eine Anlaufstelle für die an der Geschichte des Anti-Atomwiderstands interessierte Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, die sich nicht nur an die „klassische“ Kundschaft von Archiven, allen voran Historiker, richtet. Das Gorleben-Archiv fungiert zudem in unterschiedlichen Formen als politischer Akteur im Widerstand gegen die Pläne und bereits errichteten Atomanlagen im niedersächsischen Wendland. Dem Archiv fehlt es jedoch, wie den meisten Bewegungsarchiven, an finanziellen Mitteln, die sich überwiegend aus Spenden oder Mitgliedsbeiträgen speisen. Die unsichere Finanzierung ist das größte Problem der meisten Archive in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft. Hier ist es die Aufgabe einer an (der eigenen) Geschichte interessierten Gesellschaft und auch staatlicher Stellen, derartige Projekte durch finanzielle Zuschüsse stärker zu fördern, ohne ihnen dabei den Charakter unabhängiger, nichtstaatlicher Einrichtungen zu nehmen.
Marius Becker studiert Politik- und Geschichtswissenschaft und absolvierte von Anfang Mai bis Ende Juni 2018 ein Praktikum im Gorleben-Archiv.
[1] Castor-Transport: Atomkraftgegner leisten Widerstand, in: SPIEGEL Online vom 27.03.2001, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/castor-transport-atomkraftgegner-leisten-widerstand-a-124964.html [eingesehen am 26.06.18].
[2] Chronik des Gorleben-Archivs 2001, URL: http://gorleben-archiv.de/wordpress/chronik/2001-2/ [eingesehen am 21.06.2018].
[3] Gorleben-Archiv: Mittendrin in der Geschichte, in: umweltstiftung-greenpeace.de, Stand von 2012, URL: http://umweltstiftung-greenpeace.de/projekte/gorleben-archiv-mittendrin-der-geschichte [eingesehen am 21.06.18].
[4] Gorleben Archiv e.V.: Satzung des Vereins, S. 1f., URL: http://gorleben-archiv.de/wordpress/wp-content/uploads/2017/03/Satzung-Gorleben-Archiv.pdf [Eingesehen am 21.06.18].
[5] Izeki, Christine/ Roemer, Gerald: Das Gorleben-Archiv. David gegen Goliath, in: Dies. (Hrsg.): 111 Orte im Wendland die man gesehen haben muss, S. 134f.
[6] Flyer des Gorleben-Archivs, S.3, URL: http://gorleben-archiv.de/wordpress/wp-content/up-loads/2018/02/flyer-gorlebenarchiv.pdf, [eingesehen am 25.06.18].
[7] Huneke, Birgit: Unsere Geschichte, in: Gorleben Rundschau, Jg. 40 (2018), H. 4, S. 4, URL: www.bi-luechow-dannenberg.de/wp-content/uploads/2018/07/GR_2018_07_bis_08_Web.pdf, [Eingesehen am 10.08.18]
[8] O.V.: Lernen, „wie man es nicht macht“, in: Elbe-Jeetzel-Zeitung (EJZ), 23.2.2015.
[9] Interview mit Birgit Huneke am 25. Juni 2018 im Gorleben-Archiv in Lüchow.
[10] Ebd.