[analysiert]: Daniela Kallinich analysiert die gesellschaftliche Gruppe der „Bobos“ in Frankreich.
Bio boomt auch in Frankreich. Hemden sollten aus „Organic Cotton“ hergestellt sein und Schuhe auf dem europäischen Festland. In den Supermärkten wachsen die „Fair-Trade“-Regale und in jeder größeren Stadt gibt es Leihfahrradsysteme nach Beispiel des Pariser „Vélib‘“. Woher kommen diese gesellschaftlichen Veränderungen, von welchen gesellschaftlichen Gruppen wurden sie angestoßen und von wem werden sie getragen?
Ähnlich wie in Deutschland war auch die französische Mittelschicht über lange Zeit hinweg der Ausgangspunkt gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Werte, die von ihr akzeptiert wurden, verbreiteten sich rasch in der ganzen Bevölkerung; Trends wurden hier gesetzt, die sowohl von oben als auch von unten übernommen wurden. Doch hat die Mittelschicht im Zuge der ständig wachsenden Prekarisierung, in Zeiten von Zukunftsangst und Pessimismus ihre Vorreiterrolle verloren. Aktuelle Studien zeigen, dass die französische Bevölkerung weltweit die pessimistischste ist. Vor den Afghanen und Irakern. Drei Viertel glauben, dass es ihren Kindern mal schlechter als ihnen selbst gehen werde. Viele dieser Resignierten stammen aus der Mittelschicht, also aus der Gruppe, die sich über Jahrzehnte hinweg als der Hort des Optimismus in der französischen Gesellschaft bewährt hatte.
Zumindest teilweise wurden sie daher von den sogenannten „Bobos“ als Trendsetter abgelöst. Traditionell würde man diese Bevölkerungsgruppe wohl als intellektuelles Kleinbürgertum beschreiben. Der Begriff setzt sich aus den Wörtern „bourgeois“ (bürgerlich) und „bohème“ (unkonventionell) zusammen. Es handelt sich bei den „Bobos“ nicht um eine wissenschaftliche Kategorie, doch wurde das Wort bei seinem Aufkommen Anfang des Jahrtausends begeistert von Journalisten und Werbefachleuten aufgenommen. Dies liegt an mehreren Gründen: Die Kategorie Einkommen hat bei vielen Fragen keine ausreichende Erklärungskraft, da durch diese auch das traditionelle Bürgertum (bourgeoisie traditionelle; „botras“) erfasst wird (daher auch bourgeois). Auch eine Zuordnung über Selbstzuschreibung funktioniert nicht, da keiner „Bobo“ sein möchte. Grundsätzlich kann man sie wohl als Kinder oder Erben der „gauche-caviar“ (so wird das linke bürgerliche Milieu in Paris genannt, das links der Seine lebt) bezeichnen, sie sind die reichen Kinder der 68er.
Das größte Kapital der „Bobos“ ist ihre Ausbildung. Sie sind hoch qualifiziert und haben in Berufen in der Informationsbranche ihr Geld gemacht. Sie befinden sich in gesellschaftlichen Positionen, die von einigen Journalisten als „manipulierende Berufe“ bezeichnet werden, also in der Medien- und der Kommunikationsbranche, und stellen eine neue gesellschaftliche Elite dar. Sie verdienen gut und stehen dem kapitalistischen Gesellschaftssystem positiv gegenüber. Was ihre Kaufkraft angeht, stehen sie den „botras“ in nichts nach. Doch unterscheiden sie sich sowohl von den „botras“ als auch von den Parvenüs à la Sarkozy besonders in ihrem Konsumverhalten. Gekauft wird, was preiswert wirkt (!) und praktisch ist (die prunkvolle Rolex wird man bei ihnen ebenso vergebens suchen wie Möbel nach dem Stil von Ludwig XIV). Ostentative Zurschaustellung von Luxus ist verpönt. Besonderen Wert haben „praktische Geländewagen“ oder Küchenausstattungen im Wert von mehreren Zehntausend Euro.
Ihren persönlichen Erfolg und Aufstieg betrachten sie recht zwiespältig. Zwar wollen sie keinesfalls den Luxus missen, den das hohe Gehalt mit sich bringt, doch bereitet ihnen dieser auch ein schlechtes Gewissen. Das Bohème-hafte äußert sich dann auch nicht nur durch die Wohn- und Konsumsituation, sondern auch durch linkes und vor allem volatiles Wahlverhalten. Sie stehen dabei über oder zwischen den traditionellen Cleavages und wählen personen- oder fallbezogen. Ihnen hat Paris seinen moderat linken Bürgermeister zu verdanken.
Die „Bobos“ sind hauptsächlich in den Städten zu finden, für die französische traditionelle Landbevölkerung sind sie synonym mit jungen, arroganten, versnobten Parisern. Ähnlich wie ihre „älteren Cousins“, die „botras“ bevölkern sie ganze Stadtviertel in Paris und treiben so die Wohnpreise in die Höhe. Ihre Kinder schicken sie ganz bürgerlich auf meist katholische Privatschulen, da sie aus eigener Erfahrung wissen, welchen Wert die Ausbildung hat. Meritokratie ist sowieso eines der Schlüsselwörter dieser Bevölkerungsgruppe. Fleiß und Leistung haben sich bei ihnen selbst ausgezahlt – gleiches muss auch für ihre Kinder gelten.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Bobos die Gewinner der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre sind; sie zogen dank einer hervorragenden Ausbildung und großem Geschick beim Basteln des Lebenslaufs aus der Informations- und Kommunikationsrevolution den meisten Profit. Während die Mittelschicht sich auch in Frankreich um die Zukunft ihrer Kinder sorgt, blicken die Bobos optimistisch nach vorne.
Sie sind anti-bürgerliche Bürgerliche, unangepasst, aber keine Revolutionäre; teilweise haben sie spießbürgerliche Reflexe und widersprechen sich durch ihr Verhalten oft selbst. Während auf den Prioritätenlisten der Stadtverwaltungen ihrer Meinung nach ganz oben der Umweltschutz stehen sollte, steht an zweiter Stelle schon die Sicherheit. Sie wollen sich engagieren, aber nicht länger an eine Partei binden, und konsumieren, ohne jedoch mit Luxus zu prahlen. Sie sind reich wie die „botras“ und versuchen sich wie Studenten zu verhalten (dies äußert sich u.a. darüber, dass die Küche der Mittelpunkt ihres Lebens ist und sie die von den Städten zur Verfügung gestellten Leihfahrräder nutzen).
Ganz besonders interessant ist, dass keiner ein „Bobo“ sein möchte. „Bobo“ sind immer die anderen. Man selbst ist ja unangepasst und möchte in keine Schublade passen – entsprechend schwer sind sie auch für Soziologen und Werbefachleute zu fassen. In Deutschland könnte man die Gruppe auf Grund mancher Eigenschaften als „moderne Performer“ bezeichnen, jedoch sind sie hierfür eigentlich zu alt. Entsprechend könnte man sie auch dem Milieu der Intellektuellen zuordnen. Durch diese Ungenauigkeit wird wieder deutlich, dass die Bobos eher eine journalistische als eine wissenschaftliche Kategorie darstellen.
Daniela Kallinich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie beschäftigt sich intensiv mit Gesellschaft und Politik in Frankreich.