Die Niederlande wählen

[kommentiert:] Andreas Wagner über die politische Lage in den Niederlanden

Vom Gang ins Ungewisse

Nach 16 Stunden teilweise hitzig geführter Debatten war es im Februar dieses Jahres dann genug: Die Sozialdemokraten um ihren Parteichef Wouter Bos kündigten wegen des Disputs über die Verlängerung des niederländischen Afghanistanmandats die Koalition auf. Zusammen mit den beiden anderen Regierungsparteien, Jan Peter Balkenendes christdemokratischem CDA und André Rouvoets calvinistischer ChristenUnie, sei „kein gemeinsamer Weg“ mehr möglich.

[Darstellung: Das Niederländisches Parteiensystem zum Download]

Nun müssen Neuwahlen an diesem Mittwoch entscheiden, wer zukünftig die Regierung in dem ebenso hoch differenzierten wie beweglichen politischen System bilden wird. Gegenwärtig erscheinen die Mehrheitsverhältnisse alles andere als eindeutig: sowohl eine sozial-liberale Koalition, wie es sie bereits ab den 1990er Jahren unter Wim Kok gab, als auch eine liberal-christliche Regierung besäßen im Moment eine Stimmenmehrheit.

Der Königsmacher verbirgt sich in Gestalt der liberalkonservativen VVD mit ihrem  Spitzenkandidaten Mark Rutte, der seine Partei mit einem klaren wirtschaftsliberalen Kurs und restriktiven migrationspolitischen Forderungen von einer Zehnprozentpartei zur derzeit stimmenstärksten Fraktion mit etwa 25 Prozent der Stimmen geführt hat. Mit dem Sparprogramm von 30 Milliarden Euro, das vor allem durch Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich, bei Beamten und in der Migrationspolitik sowie der Einführung der Rente mit 67 erreicht werden soll, grenzten sich die Liberalen zuletzt erfolgreich von den Sozialdemokraten ab.

Die sozialdemokratische PvdA, die nach dem Verlassen der Regierung nun mit dem beliebten ehemaligen Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen als Spitzenkandidaten auftritt, konnte den Rückenwind aus der Demission im Frühjahr nicht halten: Nachdem sie in Umfragen innerhalb von Wochen zunächst ihre Anhängerschaft verdoppeln konnten und Mark Rutte der Partei wegen ihres konsensorientieren, auf gesellschaftliche Beteiligung ausgerichteten Parteiprogramms „politischen Selbstmord“ bescheinigte, fiel die PvdA nun deutlich hinter die Liberalkonservativen zurück.

Trotz dieser sozialdemokratischen Verwerfungen kurz vor der Kammerwahl ist der größte Verlierer mit Jan Peter Balkenende bereits ausgemacht: Nicht nur, dass seine mittlerweile vierte Regierung nicht über die volle Legislaturperiode hinauskam, auch seine christdemokratische Partei ist auf einen enttäuschenden dritten Platz in den Umfragen abgerutscht. Interne Streitigkeiten über den künftigen programmatischen und personellen Kurs der Partei sowie eine Welle von Rücktritten teils erfolgsversprechender Jungpolitiker nach dem Auseinanderbrechen der Koalition leiteten den christdemokratischen Absturz der letzten Monate ein.

Knapp hinter den Christdemokraten liegt die Freiheitspartei PVV von Geert Wilders, dessen antiislamische Positionen ihm das Etikett eines provokanten, rechtspopulistischen Aufwieglers einbrachten. Allerdings gelang es Wilders in dem von Wirtschaftsfragen dominierten Wahlkampf nicht, strittige migrationspolitische Fragen erfolgreich mit ökonomischen Reformnotwendigkeiten zu verbinden. Stattdessen erschienen seine Vorschläge zur Kopftuchsteuer oder der Beibehaltung der Rente mit 65 im Tausch mit einem vollständigen Migrationsstopp politischen Beobachtern eher als närrische Humoresken denn seriöse Reformvorschläge.

Obwohl sich vor der Kammerwahl nun vier Hauptkontrahenten herausgebildet haben, sind zukünftige Koalitionen weder vorgezeichnet noch bestimmbar: zu volatil ist die Wählerschaft, zu flexibel die gefragten Themen, zu schwankend das mediale Erscheinungsbild der Spitzenkandidaten. Einzig feststehen dürfte nur das Erfordernis, dass mindestens drei große oder vier mittlere Parteien eine Regierung bilden müssen. Eine große Koalition ist durch das christdemokratische Abrutschen aus ihrer moderativen Zentralstellung der 1980 und 2000er Jahre und besonders seit dem Erstarken (rechts-)liberaler Parteien nicht mehr möglich.

Denn machten die starken Wahlbilanzen und ihre liberal-konservative Ausrichtung die VVD für die Koalition mit den Christdemokraten bislang interessant, kamen ab der Jahrtausendwende auch noch rechtspopulistische Strömungen wie Pim Fortuyn, Rita Verdonk oder Geert Wilders auf den politischen Markt hinzu. Für eine langfristige Koalitionsbildung geeignet schien bislang aber nur die seriöse und beständige VVD, die eine Politik des „schlanken Staats“ verficht. Ihr Spitzenkandidat Mark Rutte steht nun nicht nur vor der Krönung seiner politischen Karriere, sondern auch vor der ersten liberalen Ministerpräsidentenschaft seit einem Jahrhundert, nachdem auch noch das staatliche Statistikbüro Bestnoten für sein Wirtschaftsprogramm und seine Sparvorschläge verteilte.

Dabei verfügte der politische Klassenbeste eigentlich nicht über die allerbesten Voraussetzungen: Mit Verdonk und Wilders ringen zwei ehemalige Parteikollegen um dasselbe liberale Wählerspektrum, die Koalitionsfrage verengt sich beinahe ausschließlich auf die schwächelnden Christdemokraten und die unberechenbare Wilders-Partei. Und abgesehen von Positionen als Abgeordneter und Staatssekretär hat der bekennende Junggeselle Rutte bislang noch kein höheres politisches Amt bekleidet.

Über mehr Erfahrung verfügt der sozialdemokratische Spitzenkandidat Job Cohen, der, als er im Februar die Nachfolge des bisherigen Parteiführers Wouter Bos antrat, zumindest Bürgermeister der niederländischen Hauptstadt Amsterdam war. Doch als von der Königin ernannter Bürgermeister verfügt der „Regent Cohen“ über keinerlei Erfahrung im Wahlkampf oder im direkten Streiten mit dem politischen Gegner. Cohen sucht stattdessen die hohen Erwartungen mit seiner besonnenen und versöhnenden Art zu erfüllen: Sein politisches Angebot ist geprägt durch das Motto „den Laden zusammenzuhalten“, Cohen fordert zudem eine egalitäre Beteiligungsgesellschaft in einem weitestgehend unangetasteten Wohlfahrtsstaat – ein politisches Gegenmanifest zum liberal-individualistischen Ansatz Mark Ruttes.

In dem polarisierenden Zweikampf verfällt Balkenendes CDA zur Marginalie. Und obschon sich Stimmen in seiner Partei auch mit einem guten, aber momentan undenkbaren zweiten Platz zufrieden zeigen, so ist trotz der situativen Unmöglichkeit der politischen Vorhersage bereits jetzt sicher, dass  die Christdemokraten ihr bislang schlechtestes Ergebnis ihrer Geschichte von 1998 mit rund 19 Prozent mehr als unterbieten werden.

Aber gleich wer aus der Kammerwahl als stimmenstärkste Partei hervorgehen dürfte, die Niederlande stehen vor einem fühlbaren Politikwechsel. Die neue Koalition wird gezwungen sein, die überbordende Staatsverschuldung inmitten einer tiefen wirtschaftlichen Krise in den Griff zu bekommen und den zentrifugalen Kräften einer ängstlichen niederländischen Gesellschaft Einhalt zu gebieten. Welche Koalition dies angesichts der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse sein wird, wird erst nach einer selbst für die Niederlande langwierigen Regierungsbildung mit vielen Parteien ersichtlich werden. Ein Prozess, der nun durchaus bis Weihnachten andauern kann.

Andreas Wagner ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Im Projekt Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus untersucht er unter anderem die Parteienlandschaft der Niederlande.