[Göttinger Köpfe]: Danny Michelsen über Friedrich Christoph Dahlmann
Als im Januar 1831 die sogenannte Göttinger Revolution ausbrach, war Friedrich Christoph Dahlmann, der spätere Anführer der Göttinger Sieben, einer der wenigen Professoren, die vehement für eine sofortige Niederschlagung des Aufstandes und die strenge Bestrafung seiner Anführer plädierten. Nachdem sich Dahlmann in der Reichshauptstadt Hannover energisch dafür eingesetzt hatte, wurde die von Studierenden und Privatdozenten getragene achttägige Rebellion, in deren Verlauf die „Republik Göttingen“ ausgerufen wurde, mit militärischer Gewalt aufgelöst. Während knapp anderthalb Jahre nach diesen Ereignissen eine große Mehrheit der Abgeordneten in der hannoverschen Ständekammer, der Dahlmann als Deputierter seiner Universität ebenfalls angehörte, für eine Amnestie der zu langjährigen Haftstrafen verurteilten Aufständischen votierte, sprach sich der Göttinger Politikprofessor gegen eine Begnadigung dieser „beklagenswerth Verirrten“ aus. Der liberale Politiker Dahlmann – das wurde in den Wirrungen des Januar-Aufstandes überdeutlich – war ein Mann vorsichtiger Reformen und ein Gegner der gewaltsamen Revolution.
Die königliche Regierung in Hannover, der die Haltung des engagierten Gelehrten als ein Beweis politischer Urteilskraft galt, beauftragte Dahlmann ein paar Monate nach der Rebellion mit dem Entwurf eines neuen „Staatsgrundgesetzes“. Der 46-Jährige erhielt damit zum ersten Mal in seinem Leben die Gelegenheit, seine Ideen von einer „guten Verfassung“ nicht nur in den Nachmittagskollegs an der provinziellen Landesuniversität – Göttingen zählte damals rund 7500 Einwohner – vorzutragen, sondern diese nun auch in konstitutionelles Recht zu gießen. Dabei hatte er nicht einmal eine juristische Ausbildung erfahren. Im Mai 1785 als Sohn des Bürgermeisters der damals noch von Schweden regierten Hansestadt Wismar geboren, hatte Dahlmann in Halle und Kopenhagen zunächst klassische Philologie, nebenher ein wenig Philosophie und Theologie studiert. 1812 wurde er auf eine außerordentliche Professur für Geschichte an der Universität Kiel berufen – ohne, wie er bezeugt, „ein Wort über Geschichte geschrieben, ja sogar ohne ein historisches Kollegium gehört zu haben“. Das ist sicher stark übertrieben, denn vor allem mithilfe seiner exzellenten Kenntnisse in der kritischen Quellenedition – eine Leidenschaft, die auch seine enge Freundschaft mit den späteren Göttinger Kollegen Jacob und Wilhelm Grimm begründen sollte – hatte sich der junge Philologe binnen kurzer Zeit den Ruf eines angesehenen Altertumswissenschaftlers erworben.
Dass Dahlmann heute zudem als ein Vorreiter politischer Wissenschaften und zugleich als einer der letzten Vertreter der neoaristotelischen Politiklehre im Deutschland des 19. Jahrhunderts angesehen wird, ist vor allem die Frucht seiner Göttinger Studien. Mit der lang ersehnten ordentlichen Professur an der Georgia Augusta übernahm Dahlmann 1829 die Verpflichtung, neben deutscher Geschichte auch über einige klassische Disziplinen der Staatenkunde zu lesen. Als er nicht einmal zwei Jahre nach seinem Ruf an die Landesuniversität in die zweite hannoversche Reichskammer gewählt wurde, begann für Dahlmann ein Spagat zwischen wissenschaftlicher und praktischer Politik, wie es für sein weiteres Leben prägend bleiben sollte: Es folgte ein über zwei Jahre währendes Pendeln zwischen der gelehrten Peripherie und der mächtigen Hauptstadt, bis 1833 – nach einem langwierigen Beratungs- und Abstimmungsprozess – endlich jene Verfassung verabschiedet werden konnte, für deren Erarbeitung Dahlmann die von ihm bevorzugte Forschungs- und Lehrtätigkeit so lange hatte vernachlässigen müssen.
Aber welche Grundsätze haben den nüchternen Hanseaten, dessen politische Auffassungen irgendwo zwischen nationalliberalen und reformkonservativen Ideologemen zu verorten sind, bei seiner Mitarbeit am hannoverschen Staatsgrundgesetz geleitet? Die Lektüre der „Politik“, seines 1835 erschienenen, leider einbändig gebliebenen Hauptwerkes, auch Dahlmanns Reden in der hannoverschen Ständeversammlung und später in der Frankfurter Paulskirche lassen ihn als einen überzeugten Anhänger der konstitutionellen Erbmonarchie erscheinen. Der König sollte seines Erachtens unter der Suprematie einer Verfassung stehen, aber gleichzeitig weitgehende Prärogativrechte und ein absolutes Vetorecht gegen die Beschlüsse beider Kammern besitzen. Mit derartigen Auffassungen stand Dahlmann, der ein großer Bewunderer Edmund Burkes war, keinesfalls an der Seite derer, die sich in den wilden 1930er und 1940er Jahren des 19. Jahrhunderts als „progressiv“ verstanden. Ganz sicher war er nicht, wie das mitunter so gedankenlos behauptet wird, ein „konsequenter Wächter der Demokratie“. Die Demokratie als Regierungsform galt ihm, wie vielen anderen Repräsentanten des liberalen Besitzbürgertums, als destruktiv und staatsgefährdend.
Die Basis der Politik, so könnte man Dahlmanns Position zusammenfassen, ist nicht das abstrakte, den Herrschaftsverträgen zugrunde liegende Naturrecht, sondern die konkrete Geschichtlichkeit eines Volkes als Quelle der „gegebenen Zustände“, die der Ausgangspunkt jeder politischen Theorie sein müsse. Ziel der Dahlmannschen Analyse ist nicht, wie z.B. der Anspruch des von ihm als unrealistisch und gefährlich eingestuften Rousseauschen Konstruktivismus lautet, die „beste“ Verfassung, sondern die „Ausführbarkeit der guten Verfassung“. Als eine solche galt ihm die ungeschriebene englische Konstitution, zugleich ein Idealtypus, in dem er, auch hier in bester aristotelischer Tradition, die Charakteristika einer Mischverfassung aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Staatsformen verkörpert sah. Sie galt ihm, wie den meisten seiner liberalen Zeitgenossen, als ein Bollwerk gegen extremistische Experimente, gegen den irreparablen Traditionsbruch – eine Gefahr, deren potentielle Quellen er sowohl in der reinen Demokratie auf Seiten des Volkes als auch, im Rahmen einer tyrannischen Herrschaft, auf Seiten der Exekutive vermutete.
Es mag daher nicht überraschen, dass sich Dahlmann im November 1837 zum förmlichen Protest verpflichtet fühlte, als der erzreaktionäre Autokrat Ernst August, der nach dem Tod Wilhelms IV. im selben Jahr König von Hannover geworden war, die noch unter seinem Vorgänger erlassene Landesverfassung außer Kraft setzen ließ. Der Göttinger Politiklehrer betrachtete den Anschlag des Regenten auf die ihn bindende Verfassung als einen illegitimen Gewaltakt gegen die gesetzliche Ordnung des Reiches. Ihr Gewissen, so Dahlmann in der von ihm formulierten, gemeinsam mit Wilhelm Eduard Albrecht, Heinrich Ewald, Georg Gottfried Gervinus, Wilhelm Eduard Weber sowie Jacob und Wilhelm Grimm, unterzeichneten Protestation, erlaube es ihnen nicht zu schweigen, wenn eine mit legalen Mitteln errichtete Verfassung „allein auf dem Wege der Macht zu Grunde gehe“. Es war die Furcht vor absoluter Herrschaft, die die Göttinger Sieben in ihrem Engagement verband, nicht etwa ein Plädoyer für die Republik, die die Verfassung von 1833 nicht einmal im Ansatz vorgesehen hatte und die sich wohl auch niemand von ihnen wünschte. Der rebellischen Göttinger Jugend imponierte jedenfalls das Handeln ihrer Lehrer: Als eine Kopie der Protestnote in die Hände von Studenten gelangte, fanden sich einige von ihnen zusammen, um den Text zu vervielfältigen und über die Landesgrenzen hinaus zu versenden. Noch bevor der König Ende November 1837 von der Note erfuhr, hatten schon mehrere deutsche und ausländische Zeitungen über den Widerstand der Sieben berichtet. Die liberale Bewegung hat mit dem selbstlosen Protest der prominenten Gelehrten, der bald zum Symbol eines dem Elfenbeinturm entsagenden wissenschaftlichen Ethos wurde, zweifellos neuen Aufwind erfahren.
Für die Sieben freilich hatte ihr Widerstand ein bitteres Nachspiel: Dahlmann, der seit Mitte der 1930er Jahre auf dem Höhepunkt seiner akademischen und politischen Karriere angelangt war, stand vor einer äußerst ungewissen Zukunft, als er und seine Mitstreiter knapp einen Monat später die vom König unterzeichneten Entlassungsurkunden in ihren Händen hielten. Zudem wurde ihm als Verfasser der Protestation, ebenso wie seinem engen Freund Jacob Grimm und dem Absender des Schreibens, Georg Gottfried Gervinus, die Emigration aus dem Königreich binnen drei Tagen nahegelegt, um einem Strafverfahren zu entgehen. Er, der noch kurz zuvor von den höchsten Regierungsstellen geachtet worden war, sah sich plötzlich gezwungen, genauso wie jene sechs Jahre zuvor von ihm als kriminell getadelten aufständischen Privatdozenten einem Land zu entfliehen, dessen Gesetzen er sich gerade in seinem Widerstand gegen die konservative Revolution so tief verpflichtet fühlte.
Dahlmann sollte Göttinger Boden nie wieder betreten. Fünf Jahre nach seiner Flucht wurde Bonn, wo er wieder einen Lehrstuhl für Geschichte erhielt, seine neue Heimat. Nachdem er als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung im April 1849 noch einmal mitansehen musste, wie ein von ihm mitgestaltetes Verfassungswerk infolge der Ablehnung der Kaiserwahl durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. letztlich scheiterte, zog sich der inzwischen 63-Jährige bis zu seinem Tod im Jahr 1860 peu à peu an den vertrauten Katheder zurück. Das Zustandekommen einer einheitlichen Reichsverfassung, wie sie die Norddeutsche Bundesverfassung von 1867 – und in modifizierter Form die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 – darstellte, sollte Dahlmann nicht mehr erleben.
Danny Michelsen ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.