[Oliver D’Antonio] über die Rolle der Presse in der Affäre um den Bundespräsidenten Wulff.
Franz Josef Strauß hatte den SPIEGEL-Journalisten Conrad Ahlers nicht in seinem Hotel im spanischen Torremolinos angerufen. Der Verteidigungsminister ließ Ahlers in der Nacht zum 27. Oktober 1962 gleich von den spanischen Behörden verhaften. Stunden zuvor hatte die Hamburger Polizei die Redaktionsbüros des SPIEGEL durchsucht. Conrad Ahlers hatte Anfang Oktober den Artikel „Bedingt abwehrbereit“ verfasst und darin scheinbar brisante Details zur militärischen Konfrontation während des Kalten Krieges öffentlich gemacht. Die Wellen einhelliger Empörung der deutschen Presseorgane schlugen damals so hoch wie selten in der Geschichte der Bundesrepublik. [1] Diesem Druck hielt der verantwortliche Minister nicht stand. Wenige Wochen nach der Aktion gegen den SPIEGEL musste Strauß zurücktreten. Die Medienlandschaft der jungen Bundesrepublik hingegen feierte einen Sieg der Pressefreiheit.
49 Jahre später, im Dezember 2011, geriet der amtierende Bundespräsident Christian Wulff in den Strudel einer Kreditaffäre. Noch als niedersächsischer Ministerpräsident nahm er bei einem befreundeten Unternehmerehepaar ein günstiges Darlehen auf, welches er dem Landtag verschwieg. Doch die Debatte über den Kredit rückte rasch in den Hintergrund. Seit Jahresbeginn 2012 dreht sich alles um mehrere Telefonanrufe, die Wulff im Vorfeld der Veröffentlichung mit Medienvertretern des Springer-Verlags getätigt haben soll, um die Berichterstattung zu verhindern. Die Nachricht, die Wulff dem BILD-Chefredakteur Kai Diekmann hinterließ, soll Drohungen und allerlei martialisches Vokabular enthalten haben. Dies versetzte die Presse in Aufregung. Wie schon bei der SPIEGEL-Affäre vor fünfzig Jahren erkannten Journalisten in Wulffs Interventionsversuch einen „unverhohlenen Anschlag auf die Pressefreiheit“. Die Worte Wulffs wurden zum Spielball in einer weiteren Affäre, die mit dem Vorwurf der Vorteilnahme recht wenig zu tun hat. BILD veröffentlichte wohldosierte Häppchen des Wortlautes der Nachricht, drohte mit deren Veröffentlichung, Wulff wiederum entschuldigte und korrigierte sich, untersagte erneut die Veröffentlichung.
Zweifelsohne, das Verhalten des bedrängten Präsidenten im Umgang mit den Medien entbehrt deutlich der Souveränität eines erfahrenen Politikers und Staatsmannes. Und seine Kreditaffäre kann in den Worten des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher möglicherweise als „Symptom jener postdemokratischen Politikzustände“ interpretiert werden, in der sich „Wirtschaft und Politik informell arrangieren“. [2] Jedoch wird der kritische Beobachter durchaus bemerken, dass die Wulffschen Telefonate keinem Vergleich mit den Ereignissen der SPIEGEL-Affäre standhalten würden und dass die Pressefreiheit durch den emotionalen Ausbruch des Präsidenten de facto nie gefährdet war. Insofern ist nicht allein das Fehlverhalten Wulffs erklärungsbedürftig, sondern auch die hysterische mediale Reaktion, die dieses auslöste. Denn auch sie kann als ein Symptom verstanden werden: Es ist etwas zerbrochen, das mehr war als die Beziehung zwischen Diekmann und Wulff. In den letzten Jahrzehnten erodierte vielmehr ein Stück politisch-medialer Kultur in der Bundesrepublik, was nicht allein der Politik, sondern auch den Medien zu schaffen macht.
In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik war ein politisch-mediales Kräftemessen wie im Falle der SPIEGEL-Affäre ein höchst seltener Ausnahmefall. Die längste Zeit der Bonner Jahrzehnte ging es zwischen Politikern und Journalisten recht friedlich zu. In der Enge der kleinen Hauptstadt Bonn entstand ein verzahnter politisch-medialer Komplex, den der Politologe Ulrich von Alemann mit der Metapher eines „Biotops“ treffend umschrieb. [3] Die Hauptstadtjournalisten aus Bonner Tagen berichten von den verwobenen Zirkeln aus Journalisten, Abgeordneten und Ministern, dem gezielten Lancieren und Publizieren von Botschaften und dem Hauch des Großen und Wichtigen, der alles, auch die Medienleute am Rhein, umwehte. [4] Doch in den Jugendjahren der zweiten deutschen Republik sollte die Demokratie zunächst erlernt, stabilisiert und legitimiert werden. Im Gegensatz zur parteipolitischen Richtungspresse der Vorkriegsjahrzehnte dominierte in der Bonner Ära nun ein eher faktenbezogener Journalismus, der aber keine politikkritische, investigativ-journalistische Kultur wie in den Vereinigten Staaten hervorbrachte. [5] Der SPIEGEL war die einzige, zudem recht dezente Ausnahme innerhalb einer eher staatstragenden Medienlandschaft.
Spätestens in den 1980er Jahren gerieten die stabilen Verhältnisse der Bonner Parteiendemokratie ins Wanken. Und wandelt sich ein ökologischer Faktor innerhalb eines Biotops, so zieht dies auch Folgen für die anderen Bewohner des Lebensraums nach sich, so auch für die Bonner Medienlandschaft: Mit dem Aufkommen sozialer Protestbewegungen und der Entstehung neuer parteipolitischer Akteure, wie den Grünen oder der PDS, wurden auch die Medien dazu gezwungen, zu diesen Phänomenen Position zu beziehen. Des Weiteren führte die zunehmende Offenlegung politischer Skandale zu, auch medial geschürter, politischer Verdrossenheit und der Wahrnehmung von Spitzenpolitikern als sich selbst bereichernde Vorteilsnehmer. Damit einher ging eine Welle populistischer Kritik an der „politischen Klasse“ [6], der die Medienvertreter ab den 1990er Jahren die Tore öffneten. Zudem hatte die verschärfte Konkurrenzsituation durch den Rückgang der Tageszeitungsabonnements, die Zulassung privater Rundfunkanbieter sowie das neue Medium Internet die technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Medienmacher verändert.
Die Journalisten, die sich in diesen komplexer werdenden Zeiten selbst eine gesellschaftliche Leitfunktion zumaßen, sind heute selbst tief verunsichert und orientierungslos. Die „große Politik“ ist nicht mehr allein Taktgeber der medialen Berichterstattung, wie dies noch in den behäbigen Bonner Zeiten der Fall war. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Dienste der Demokratie, die engen Netzwerke von Medienmachern und Politikmachern, sie funktionieren nicht mehr so zielsicher. Das Bonner Biotop ist in Berlin ausgetrocknet, die Loyalitätsreserven zwischen Politikern und Medienleuten, der Grundkonsens ist aufgebraucht. Zudem sind die Medien aufgefordert, die eigene Position im sich zerfließenden Rechts-Links-Kontinuum zu bestimmen. Die Fronten lösen sich nicht nur in der Parteipolitik auf. 2005 versuchte der wirtschaftsliberale SPIEGEL den wirtschaftsliberalen SPD-Kanzler Schröder aus dem Amt zu schreiben und jüngst begann Frank Schirrmacher „zu glauben, dass die Linke recht hat“ mit ihrer Kritik an den bürgerlichen Werten. Dazu passt auch, dass der konservative Springer-Verlag nun gegen einen bürgerlichen Bundespräsidenten zum Angriff bläst.
Nach dem symbiotischen Biotop herrscht ein wenig Anarchie, denn die Medienmaschine muss weiterlaufen und das schneller denn je zuvor. Viele Massenmedien greifen Themen nicht nur auf, üben nicht allein die Kontrolle als „vierte Gewalt“ aus, sie machen nun auch Politik. Das taten sie wohl schon immer ein wenig, dieser Tage hat dies jedoch bedenkliche Dimensionen angenommen. Schließlich wird der wütende Anruf des Staatsmannes, der in früheren Zeiten nur das Vorspiel zur Berichterstattung war, selbst zur Nachricht. In der Affäre um Christian Wulff hatten die Medien weniger über Rücktrittsforderungen aus anderen Parteien zu berichten, als über die, die sie selbst erhoben. Und wenn nicht die interviewten Experten aus Staatsrecht und Politikwissenschaft die institutionelle Revolution fordern, so erheben die Journalisten einfach selbst die Forderung, das Amt des Bundespräsidenten abzuschaffen. [7]
Gewiss, die Pressefreiheit erlaubt, wenn man es ernst mit ihr meint, weite Spielräume. Dass diese kaum bedroht sind, zeigt nicht zuletzt das heftige Rumoren der Medien in diesen Tagen. Das ist auch erlaubt. Und dennoch besitzen nicht nur die politischen, sondern auch die medialen Eliten eine moralische Verantwortung und eine demokratische Funktion. Sie sollten nicht deshalb zu Populisten werden, weil ihnen die Politik diese Rolle nicht abnimmt. Wer fast täglich die Demoskopie bemüht, um einen Präsidenten oder eine Partei zu stützen oder anzuzählen, ohne dabei die Wirkung des Instrumentes auf die öffentliche Meinung auch nur zu bedenken, handelt unverantwortlich. Wer wochenlang mit Veröffentlichungen droht, um die Auflagen- oder Klickzahlen zu steigern, statt zu publizieren, wo es aus demokratischen und ethischen Gründen geboten erscheint – oder es zu unterlassen –, besitzt fragwürdige Moralvorstellungen. Es gilt die Maximen zu hinterfragen, welche hinter der lautstarken Forderung nach Pressefreiheit stehen. Im Falle Wulff haben die Medien die Grenzen keineswegs überschritten – doch getestet haben sie diese schon.
Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
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[1] Vgl. Pressestimmen zur Aktion gegen den SPIEGEL, in: DER SPIEGEL vom 07.11.1962.
[2] Schirrmacher, Frank: Die Fiktion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.2012.
[3] Vgl. Alemann, Ulrich von: Parteien und Medien, in: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland, 2., aktualisierte Auflage, Bonn 2001, S. 467-483, hier S. 480 ff.
[4] Vgl. Dreher, Klaus: Treibhaus Bonn, Schaubühne Berlin. Deutsche Befindlichkeiten, Stuttgart 1999, S. 145 ff.
[5] Vgl. Haller, Michael: Recherchieren. Ein Handbuch für Journalisten, 5., völlig überarbeitete Auflage, Konstanz 2000, S. 30 ff.
[6] Vgl. Beyme, Klaus von: Die politische Klasse im Parteienstaat, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1995, S. 195 ff.
[7] Vgl. Posener, Alan: Brauchen wir einen Bundespräsidenten? Nein, sagt Alan Posener, in: Die Welt, 07.12.2011.