[präsentiert]: Michael Lühmann bietet im nächsten Semester das Seminar Der Osten im Westen. Nur eine Fußnote der Geschichte? an. Im folgenden Text macht er deutlich, warum es sich lohnt den Blick über den Tellerrand der westdeutschen Geschichte zu heben.
„Die kurzlebige Existenz der DDR hat in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt. Denn ihre erdrückende Mehrheit hatte sich nicht gewünscht, unter diesem Repressionsregime zu leben. Alle falschen Weichenstellungen, die in Ostdeutschland vorgenommen worden sind, müssen nach dem Vorbild des westdeutschen Modells in einem mühseligen Prozess korrigiert werden. Das ist die Bürde der neuen Bundesrepublik seit 1990. Das Intermezzo der ostdeutschen Satrapie muss aber nicht an dieser Stelle durch eine ausführliche Analyse aufgewertet werden. Man kann es der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen, das Gelände eines untergegangenen, von seiner eigenen Bevölkerung aufgelösten Staatswesens mit all seinen Irrwegen genauer zu erkunden.“
(Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, S. XVf.)
Was Hans-Ulrich Wehler, ein verdienter Historiker der alten Bonner Republik, mit seinem fünften Band zur deutschen Gesellschaftsgeschichte vorlegte, sagt viel aus über die Befindlichkeiten in der geeinten Bundesrepublik. Denn statt sich – durchaus auch geschichtspolitisch – zu fragen, welche Errungenschaften die untergegangene DDR mit in den gesamtdeutschen, mithin auch gesamteuropäischen Diskurs eingebracht hat, zieht sich Wehler auf den Feldherrenhügel der Geschichte zurück und urteilt, darwinistisch anmutend, dass nur die siegreiche Bundesrepublik einer näheren historischen Betrachtung würdig sei. Nun mag das wütende Anschreiben gegen das, was die DDR zu Recht hat untergehen lassen, vollkommen legitim anmuten. Aber als Historiker die Doppelexistenz beider deutscher Staaten als Referenzrahmen etwa auf dem Feld der Deutschland-, der Außen-, der Wirtschafts-, der Sozial- und vor allem der Geschichtspolitik nahezu zu ignorieren, ist nicht nur hochmütig, sondern führt vor allem zu einer apologetischen, ja nachgerade hagiographischen Verklärung der Bundesrepublik vor und nach der Zäsur von 1989.
Nicht gänzlich anders ist es auf dem Feld der politikwissenschaftlichen Expertise bestellt. Auch hier wird, geschichtspolitisch und politisch-bildend motiviert, die DDR und, zeitnaher, Ostdeutschland als ganz natürlicher Teil der gesamten Bundesrepublik verhandelt, der auf dem besten Wege ist, die letzten Unterschiede abzuschleifen. Und wo diese Analyse nicht trifft, dort handelt es sich dann gemeinhin um Modernisierungsprozesse, die der Osten dem Westen vorwegnimmt – also nicht um eine eigenständige Entwicklung, sondern um ganz normale Entwicklungen moderner Staatswesen. Ein Ansatz, der, anders nuanciert, unter dem Stichwort der Konvergenztheorie bereits in den sechziger Jahren verhandelt wurde und der sich im Ende der Ideologien – und der Geschichte – in Spuren immer wieder finden lässt. Nur eben richtiger werden diese Theoreme davon auch nicht.
Was also ist Ostdeutschland, und – was war die DDR? Und was wäre die Bundesrepublik ohne den Referenzrahmen DDR/Ostdeutschland geworden? Hätte Adenauers zündender Antikommunismus so fesselnd gewirkt, wenn nicht die Opfer Stalins jenseits des Eisernen Vorhangs zugleich Brüder und Schwestern, der gleichen Sprache mächtig, gewesen wären? Wäre Willy Brandt der große, gerühmte Entspannungspolitiker geworden, hätte er „nur“ Friedensverträge mit den Staaten des Ostblocks geschlossen? Waren die Kämpfe um den NATO-Doppelbeschluss nicht auch derart umkämpft, weil Deutsche auf Deutsche hätten schießen können; und hätte Lafontaine nicht die Wahl gewonnen, respektive Kohl die Wahl verloren, ohne die ostdeutsche Revolution von 1989?
Überdies ist Ostdeutschland weit mehr als nur der Referenzpunkt bundesrepublikanischer Politik. Denn das Wehler‘sche Diktum, dass nur wenige Ostdeutsche gern im Repressionsregime gelebt hätten, hat unlängst Risse bekommen. Nicht wenige Ostdeutsche hatten sich eingerichtet in der „zweiten deutschen Diktatur“, haben dort ein ganz normales Leben geführt, haben am bösartigen „Zellenstaat“ DDR „partizipiert“ (Fulbrook), dem Regime „seltsame Stabilität“ verliehen (Port). Auf der anderen Seite hat die Bevölkerung in der DDR die deutsche Geschichte um eine geglückte und friedliche Revolution auf deutschem Boden bereichert. Und richtig ist, sie haben die Frage nach den Besitzverhältnissen nicht von vornherein gestellt, weshalb immer wieder die Qualifizierung als Revolution in Frage gestellt wird. Aber sie haben sie positiv wie negativ nicht gestellt. Sie wollten niemandem etwas wegnehmen, aber eben auch nichts haben, nichts außer, ja außer ein bisschen Demokratie: Mitsprache, freie Wahlen, die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können, ein bisschen Luft zum Atmen. Eine Revolution, die in ihrer demokratischen Reinheit kaum übertroffen werden kann.
Und heute? Heute mag sich kaum noch einer daran erinnern, welch Euphorie, welch Aufbruchsgeist von den Ostdeutschen ausging. Die Ideen reichten von Entmilitarisierung über einen konsequenten ökologischen Umbau der sozialen Marktwirtschaft bis hin zu einer neuen, um direktdemokratische Mitspracherechte stark erweiterten, gesamtdeutschen Verfassung. Weder die Ideen noch die Euphorien auf beiden Seiten der einst trennenden Mauer hielten lang. Gewichen ist all dies einer gewissen deutschen Einheits-Malaise. Das Leiden am Status quo wird zementiert durch ostalgische Rückbesinnung auf der einen und einer Diskriminierung ostdeutscher Errungenschaften auf der anderen Seite. Es wuchs nur kurz zusammen, was sich heute gegenübersteht. Kurz auf der einen: „Es war nicht alles schlecht“, kurz auf der anderen: „Zonen-Gabi darf gern rüberkommen, wenn sie Zonen-Gabi bleibt“ (SZ).
Gleichwohl teilt man so viel an gemeinsamer Geschichte. Beide Gesellschaften brachten, zum Teil zu unterschiedlichen Zeiten, deutungsmächtige Generationen hervor, etwa die Aufbaugeneration der 45er oder die auf beiden Seiten der Mauer versetzt wirkungsmächtigen 68er. Beide brachen, zeitlich versetzt, aus der Diktatur in die Demokratie auf, mit all den Anpassungsstörungen, die solche Prozesse hervorbringen. Und beide Seiten besitzen Stereotype für die andere Seite. Und schließlich brachen Ost wie West gemeinsam in die Berliner Republik auf – in die Zeit nach östlicher „Fürsorgediktatur“ (Jarausch) und westlichem, rheinischen Korporatismus. Doch die vermeintliche Ankunft beider Teile der Bundesrepublik in der gemeinsam bezogenen Berliner Republik hat bis heute nicht dazu geführt, dass die Missverständnisse zwischen beiden Teilen weniger geworden wären, auch wenn man inzwischen von einer ostdeutschen Kanzlerin regiert wird.
Kurzum, Ost und West wird noch lange Ost und West bleiben. Da hilft es nicht, den Osten als unliebsames Anhängsel in Wahlkämpfen zu instrumentalisieren, da hilft keine noch so geschichtspolitisch gewollte Einebnung der Unterschiede, da hilft auch nicht die Ausrufung des Sieges der Bundesrepublik über die DDR, um dieses Ziel zu erreichen. Aus diesen monolithischen Deutungen auszubrechen, ist Ziel des Seminars „Der Osten im Westen. Nur eine Fußnote der Geschichte?“.
Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.