[kommentiert]: Torben Schwuchow über die Kritik des demokratischen Menschen bei Platon und Tocqueville
Demokratien sind in Bewegung. Parteien wechseln von Oppositions- zu Regierungsaufgaben. Proteste entstehen und verschwinden genauso wie politische Parteien die parlamentarische Bühne betreten und wieder verlassen. Auch der institutionelle Rahmen einer Demokratie und ihre Leitideen, sind niemals vor Kritik und Veränderungen gefeit. Umso schwieriger ist es, zwischen der normalen Beweglichkeit und einer tatsächlichen Krise der Demokratie zu unterscheiden. Zur Beantwortung dieser komplizierten Frage bieten zwei berühmte Autoren der politischen Theorie einen bemerkenswerten Vorschlag an. Platon und Alexis de Tocqueville präsentieren uns die Demokratie nicht anhand eines institutionellen Verfahrens, sondern als eine Lebensform. Wodurch zeichnet sich diese demokratische Lebensweise aus?
In Tocquevilles Werk „Über die Demokratie in Amerika“ wird uns im zweiten Band ein leidenschaftlicher, höchst emotionaler Demokrat präsentiert. Aus Liebe zur Gleichheit lehnt dieser Mensch jede Form der Hierarchie und Unterordnung ab. Die aristokratische Ständegesellschaft, die vom Bauer bis zum König allen Menschen einen festen Platz zugeordnet hatte, wurde durch die Demokratie gebrochen. Daher ist der demokratische Mensch für Tocqueville ein isolierter Einzelgänger, der – „nachdem er eine kleine Gesellschaft für seinen Bedarf geschaffen hat“[1] –, sich von öffentlichen Angelegenheiten fernhält und sein Glück im Privaten sucht.
Das Ideal der Gleichheit birgt allerdings ein nicht lösbares Problem: Trotz aller politischen und sozialen Anstrengungen sieht sich der demokratische Mensch stets anderen gegenüber, die ihn durch materiellen Besitz überragen. Aus der Sehnsucht nach Gleichheit wächst daher die zweite Leidenschaft des Demokraten: die Liebe zum Wohlstand. Rastlos vor Angst, dass sie „den kürzesten Pfad zum Glück verfehlen“[2] könnten, sieht Tocqueville die Demokraten ständig einen neuen Weg einschlagen. In diesem Wettstreit entstehen und verfestigen sich immer wieder Ungleichheiten, die der Einzelne nicht abbauen kann. Traurig und niemals zufrieden hetzt Tocquevilles Protagonist von einer Entscheidung zur nächsten:
„Ein Mensch baut in den Vereinigten Staaten sehr sorgfältig ein Haus […] und er verkauft es; […] er legt einen Garten an, und wenn er dessen Früchte kosten könnte, verpachtet er ihn; […] Er ergreift einen Beruf und gibt ihn auf. Wenn seine Privatgeschäfte ihm etwas Ruhe lassen, so stürzt es sich alsbald in die Wirbel der Politik. Endlich kommt der Tod und gebietet ihm Halt, bevor er dieses nutzlosen Jagens nach einer ständig fliehenden Glückseligkeit müde geworden ist.“[3]
Auch Platon legt im VIII. Buch der „Politeia“ großen Wert auf demokratische Leidenschaften. Für ihn ist die Liebe zur Freiheit der alles dominierende Charakterzug der Demokratie. Niemand könne den Demokraten gegen seinen Willen zwingen, zu gehorchen. Genau wie Tocqueville sieht Platon dadurch alle traditionellen autoritären Beziehungen aufgehoben. Da er alle Formen der Herrschaftsausübung ablehnt, will Platons demokratischer Mensch auch seine Begierden und Interessen nicht nach rationalen Maßstäben ordnen. Er verzichtet auf jegliche Form der Meinungsbildung und gibt sich „der einzigen Ordnung hin, die er nicht außer Kraft setzen kann, der zeitlichen Linearität.“[4] Anders als bei Tocqueville liest sich das Leben dieses Menschen beinahe paradiesisch:
„So lebt er also Tag für Tag […] und zeigt sich willig jeder Begierde, die ihm gerade einfällt. Bald berauscht er sich bei Wein und Flötenspiel, dann trinkt er wieder Wasser und magert ab; bald treibt er Gymnastik, dann geht er wieder müßig und kümmert sich um nichts; […] keine Ordnung und keine Notwendigkeit waltet über seinem Leben; sondern das nennt er ein angenehmes, freies und glückliches Dasein und genießt es bis an sein Ende.“[5]
Platon und Tocqueville verfassten ihre Werke zu unterschiedlichen Zeiten, in ganz verschiedenartigen politischen Kontexten – und dennoch weisen beide Darstellungen erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Die Demokratie ist beiden Autoren zufolge geprägt von einer zeitlichen und inhaltlichen Inkonsistenz. Weder sind die menschlichen Tätigkeiten von Dauer, noch ist das menschliche Handeln stets kohärent. Die zwei vorgestellten demokratischen Protagonisten ändern beständig ihr Verhalten, sodass sich ihr Leben wie ein einziger Widerspruch liest.
Angesichts dieser Diskrepanzen prognostizieren Platon und Tocqueville der Demokratie ein grausames Ende. Irgendwann, so ihre Prophezeiung, gelange der demokratische Mensch an den Punkt, an dem er sich nach Ruhe und Sicherheit sehne. Aus der bedingungslosen Liebe nach Freiheit und Gleichheit entstehe die größtmögliche Form der Knechtschaft: Eine allumfassende, jedes Detail des menschlichen Lebens regelnde, totalitäre Herrschaftsform.[6]
Trotz dieser bitteren Prognose soll diese Kritik nun nicht dazu führen, kein Demokrat mehr sein zu wollen. Vielmehr stellt der inkonsistente Charakter der Demokratie den homo democraticus vor eine Herausforderung: Statt Widersprüche zu negieren und aufzulösen, muss er lernen, mit ihnen umzugehen, sie zu ertragen und auszuhalten.
Auf den institutionellen Rahmen übertragen bedeutet das: Die Krise einer Demokratie wird an den ihr offenstehenden demokratischen Handlungsoptionen sichtbar. Da Veränderungs- und Bewegungsprozesse „normal“ für eine Demokratie sind, sind alle Alternativen, die auf ein Ende dieser Beweglichkeit zu steuern, antidemokratisch. Am Ende bleibt Aufgabe des „demokratischen Menschen“, diesen Verlockungen zu widerstehen. Die Werke von Platon und Tocqueville lehren uns auch: Echte Demokraten lieben das Chaos!
Torben Schwuchow studiert an der Goethe-Universität Frankfurt Politische Theorie (M. A.) und hat im Sommer 2016 am Institut für Demokratieforschung ein Praktikum absolviert.
[1] Tocqueville, Alexis: Über die Demokratie in Amerika. Beide Teile in einem Band. München 1974, S. 585.
[2] Ebd.: S. 626.
[3] Ebd.: S. 625f.
[4] Kersting, Wolfgang: Platons <Staat>. Darmstadt 2006, S. 280.
[5] Platon: Der Staat. München 1974, 561d.
[6] Während Tocqueville vor der Entstehung einer übermächtigen Zentralgewalt warnt, entsteht bei Platon zwangsläufig die Tyrannis aus der Demokratie.