[analysiert]: Bastian Brandau über die politische Lage in Italien nach dem Rücktritt Mario Montis.
Die Töne waren leiser geworden im politischen Italien. Weniger Konfrontation zwischen den politischen Lagern, stattdessen der Versuch konzentrierter Arbeit von Ministerpräsident Mario Monti und den Fachleuten seines governo tecnico. Kleine Schritte der finanziellen Konsolidierung, Beruhigung der Märkte, Reform des politischen Systems: So verlief das politische Jahr 2012. Beruhigt und konsolidiert wurde in der Tat. Die Reform des politischen Systems misslang jedoch gründlich. Nun geht Montis Amtszeit vorzeitig zu Ende, der Wahlkampf und damit die Konfrontation haben Einzug gehalten auf der politischen Bühne. Dort wird in den kommenden Wochen noch so manche Volte geschlagen werden. Im Vorfeld der Wahlen gilt es nun, einige wichtige Fragen zu diskutieren: Welche Kandidaten treten zur Wahl an? Wie beständig sind die Zustimmungswerte für die momentan in den Umfragen führende Demokratische Partei? Welche Rolle können Beppe Grillo und seine Fünf-Sterne-Bewegung spielen, die zuletzt bei Wahlen mächtig abräumten?
Dass diese Fragen noch völlig offen sind, hängt auch mit der gescheiterten Reform wichtiger Punkte des politischen Systems zusammen. Gleich zu Beginn des Wahlkampfs manifestiert sich jetzt bitter eine Nachlässigkeit unter Montis Regierung: Reformvorhaben wurden nicht konsequent angegangen – das rächt sich nun. Das entscheidende Versäumnis betrifft das Wahlgesetz, das sogenannte Porcellum, seit 2005 in Kraft. Dass dieses Wahlgesetz eine „Schweinerei“[1] sei, dem stimmte selbst der zuständige Minister Calderoli später zu. Denn es garantiert der stärksten Liste (und das sollte ursprünglich natürlich die Liste Berlusconis sein) mindestens 340 Sitze in der Abgeordnetenkammer, also eine bequeme Mehrheit. Dies gilt sogar dann, wenn die Liste deutlich unter 50 Prozent Zustimmung erhalten hat. Dem liegt ein bizarres Demokratieverständnis zugrunde, das um jeden Preis für stabile Mehrheiten sorgen will – aber erfolglos blieb. So gelangte 2006 Romano Prodi zu einer Majorität und 2008 Silvio Berlusconi, der sich seit Beginn seiner Karriere auf breite Parteienbündnisse spezialisiert hatte. Sowohl Prodi als auch Berlusconi konnten ihre Bündnisse nicht lange zusammenhalten, sie bröckelten schnell, bis auch die Regierungen, die sie trugen, zerbrachen. Daher herrschte 2011 bei allen Parteien, die Montis Regierung stützten (und das waren sowohl die Demokraten des PD als auch Berlusconis PdL) Einigkeit: Das Porcellum muss weg. Eine parteiübergreifende Kommission nahm die Arbeit auf, verkündete mehrfach den Durchbruch. Unterschiedliche Modelle standen zur Diskussion, unter anderen ein dem deutschen Wahlsystem sehr ähnlicher Modus. Je länger die Kommission diskutierte und verkündete, umso klarer wurde jedoch: Auch 2013 bekommt wieder die Liste mit den meisten Stimmen einen Mehrheitsbonus – ein Mechanismus, der in keinem anderen Land dieser Größe greift.
Im Porcellum ist zudem ein weiteres wenig demokratisches Element enthalten: Die liste bloccate, geschlossene Parteilisten, auf die an der Urne kein Einfluss genommen werden kann.[2] Das verhindert, was die italienische Politik seit der verfassungsgebenden Versammlung umzusetzen verweigert: parteiinterne Demokratie. Diese ist im Artikel 49 der Verfassung enthalten, aber auch hier scheiterte unter Monti eine Kommission an der Ausformulierung eines neuen Gesetzes. Noch immer werden Listen von der Parteiführung besetzt, im schlimmsten Fall entscheidet eine einzelne Person über die Reihenfolge auf der Liste – und so über das politische und finanzielle Schicksal hunderter Menschen. Hier von einer Abhängigkeitssituation der Parteipolitiker von ihrer Parteispitze zu sprechen, wäre eine glatte Untertreibung.
Zustände wie diese verschafften dem Movimento 5 Stelle (M5S) zuletzt einen großen Stimmenzuwachs. Diese Parteienbewegung unter Führung des Komikers Beppe Grillo benennt seit gut fünf Jahren präzise die Missstände des politischen Systems und eilte zuletzt von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Weil das rechte Lager einen desaströsen Schiffbruch erlitt und die Linksparteien sich gegenseitig blockierten, wurde das M5S bei den Regionalwahlen in Sizilien mit gut 15 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Für die Regionen gilt ein anderes Wahlgesetz als auf nationaler Ebene; bei einer nach dem national gültigen Porcellum durchgeführten Wahl hätten Grillo und seine Anhänger jedoch eine Mehrheit in der Kammer erhalten! Dies wird im Februar 2013 im Parlament so nicht geschehen. Die Angst aber, dass Grillo und seine Anhänger von der Schwäche der etablierten Parteien profitieren und per Mehrheitsprämie das italienische Parlament dominieren könnten, ließ die großen Parteien kurz aufhorchen. Doch die Umfragewerte für das M5S sanken wieder, zu einer Einigung im Streit um das Wahlgesetz kam es nicht. Bis heute.
Grillos Fünf-Sterne Bewegung führte Anfang Dezember Online-Wahlen durch, bei denen die eingetragenen Mitglieder in ihren Wahlkreisen Kandidaten bestimmen konnten. Wenngleich das Verfahren wenig transparent war und nur wenige sich beteiligten, schien dies das einzige Beispiel einer Partei zu bleiben, die ihre Kandidaten wählt und nicht durch die Parteiführung bestimmt. Denn der vorzeitige Rücktritt Montis führt zu einem früheren Wahltermin als ursprünglich geplant: bereits Ende Februar statt im April. Dies stellt die Demokratische Partei vor Probleme. Nachdem rund drei Millionen Anhänger Anfang Dezember ihren Parteisekretär Pier Luigi Bersani zum Spitzenkandidaten gewählt hatten und dies allgemein als großer Erfolg für die innerparteiliche Demokratie gewertet wurde, drohten die Vorwahlen der einzelnen Kandidaten zunächst an Zeitmangel zu scheitern, bevor sie am letzten Wochenende des Jahres 2012 doch durchgeführt werden konnten. Rund eine Million Parteianhänger stimmten dabei für junge Kandidaten, bei einem erhöhten Frauenanteil. Dies sind durchaus positive Ergebnisse mit einem kleinen Schönheitsfehler: Zehn Prozent der Listenplätze werden nach wie vor vom Parteipräsidium an „verdiente Abgeordnete“ vergeben. Andere Parteien verzichten derweil weiterhin auf die demokratische Legitimierung ihrer Kandidaten.
Für das Movimento 5 Stelle steht gar grundsätzlich die Teilnahme an den anstehenden Wahlen auf der Kippe. Um zur Wahl zugelassen zu werden, muss die Gruppierung als Wahlliste pro Wahlbezirk je nach Größe 1500 bis 4500 Unterschriften sammeln und diese bis zum Tag der Kandidatenfestlegung vorlegen – doch auch der verschiebt sich jetzt nach vorne. Damit könnte es eng werden für Grillo, aber auch für die „orangene Liste“ des Bürgermeisters von Neapel, Luigi de Magistris.
Umso tragischer an den versäumten Reformen ist die Tatsache, dass die neue Regierung über eine deutlich geringere Mehrheit verfügen wird als Monti und seine Fachleute – unwahrscheinlich, dass es für eines der politischen Lager überhaupt zu einer Mehrheit reichen wird. Eine Regierung benötigt in Italien stets auch eine Mehrheit im Senat; dies sieht das italienische System des perfekten Bikameralismus vor. Und so gilt als ein wahrscheinliches Szenario, dass nach der Wahl erneut ein überparteilicher Techniker mit der Regierungsbildung beauftragt wird. An eine Veränderung des lähmenden perfekten Bikameralismus wird sich kaum eine Regierung wagen. Aber vielleicht wird es der nächsten Regierung gelingen, der „Schweinerei“ ein Ende zu bereiten.