„Das ist unsere Haltung, und diese Haltung ist richtig“

[kommentiert]: Teresa Nentwig über den CDU-Bundesparteitag 2011.

Champagner, Canapés und Cappuccino gingen weg wie warme Semmeln. Flanierte man durch den Ausstellungsbereich des Bundesparteitags, setzte sich schnell dieser Eindruck fest: Es waren vor allem die Stände begehrt, an denen es kostenlos etwas zu essen beziehungsweise zu trinken gab. Geradezu gottverlassen wirkte dagegen der große Stand, den die CDU-Bundesgeschäftsstelle aufgebaut hatte, um für den „Aktionsplan Volkspartei 2020“ zu werben. „Aktionsplan Volkspartei 2020“? In der medialen Berichterstattung über den Bundesparteitag war davon nichts zu lesen; stattdessen standen dort die Rede Angela Merkels und der Beschluss einer allgemeinen, verbindlichen Lohnuntergrenze im Mittelpunkt. Dabei ist der „Aktionsplan“ höchst interessant und für die Zukunft der CDU nicht unbedeutend.

Wie der Name bereits sagt, geht der „Aktionsplan Volkspartei 2020“ von dem Grundgedanken aus, „dass die Volkspartei kein totgesagtes Modell ist, sondern lebendig ist. Nur sie muss eben ständig wieder an sich arbeiten, um auch die gesellschaftliche Entwicklung aufzunehmen und immer wieder attraktive Angebote zu unterbreiten“, wie CDU-Bundesgeschäftsführer Klaus Schüler erläutert, der den Plan zusammen mit den Generalsekretären und Geschäftsführern der Landesverbände sowie den Bundesgeschäftsführern der CDU-Vereinigungen entworfen hat. Der Aktionsplan baut auf fünf Säulen auf: 1. der Mitgliederwerbung, -bindung und -pflege, 2. der Neustrukturierung des Online-Angebots der CDU, 3. der Erhöhung der Organisationskraft, 4. der verstärkten gesellschaftlichen Vernetzung und 5. dem Ausbau der Partizipations- und Dialogangebote. Mit der Mitgliederwerbeaktion hat die CDU bereits begonnen. Im Eingangsbereich der Leipziger Messe, Austragungsort des Bundesparteitags, konnte man einen ersten Eindruck davon bekommen: Um zum Tagungssaal zu gelangen, musste man eine Phalanx von großen Plakatwänden abschreiten: Von jedem der zwölf Plakate blickte ein CDU-Mitglied herab, von einer Landwirtin über einen Unternehmer bis zu einer Studentin, jeweils versehen mit einem kurzen Text, der ihre persönliche Geschichte enthielt. Unter dem Motto „Verpassen Sie der CDU Ihre Handschrift. Jetzt Mitglied werden auf mitglied.cdu.de“ werben die zwölf Christdemokraten um neue Mitglieder.

Diese hat die CDU auch bitter nötig. Das jedenfalls war der Kern des Berichts, den Bundesschatzmeister Helmut Linssen in Leipzig vorgetragen hat – ebenfalls ohne mediales Echo. Das ist bemerkenswert, zeichnete Linssen doch in Teilen ein wenig positives Bild von seiner eigenen Partei. So wies er auf den Mitgliederrückgang hin, der der CDU weniger Beiträge beschere. Zudem sprach er die rückläufigen Spenden an. „Es steht daher außer Frage“, so Linssen, „dass wir unsere Anstrengungen bei der Mitgliederwerbung, der durchschnittlichen Höhe der Mitgliedsbeiträge und im Bereich der Spendenwerbung auf allen Ebenen der Partei verstärken müssen, wenn wir dieser Entwicklung wirkungsvoll entgegensteuern wollen.“ Besonders die Ursachen, die der Bundesschatzmeister für den Spendenrückgang anführte, machen nachdenklich. In seinen Gesprächen, so Linssen, erlebe er „immer wieder erhebliche Kritik am Zustand unserer Partei, aber auch am Erscheinungsbild der Regierung und einzelner ihrer Repräsentanten. Vermisst wird eine klare Linie, die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit im politischen Handeln.“

Klare Linie, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit im politischen Handeln? Geht es danach, dann dürften in den kommenden Monaten noch weniger Menschen bereit sein, der CDU Geld zu spenden. Denn das, was die Partei in Leipzig vor und nach Linssens eindringlichen Worten beschloss, war erneut ein Kurswechsel. Ja: Verglichen mit dem Bundesparteitag, den die CDU am 1. und 2. Dezember 2003 ebenfalls in der Leipziger Messe veranstaltet hatte, wirken die jetzigen Beschlüsse wie eine 180-Grad-Kehrtwende. Die Entscheidungen von damals werden gern als „marktgläubig“ beziehungsweise „neoliberal“ bezeichnet. In der Tat: Vor acht Jahren hatten die Delegierten zum einen eine radikale Sozialreform verabschiedet, als deren Kernelement die einheitliche „Gesundheitsprämie“ in der Krankenversicherung gepriesen worden war. Zum anderen hatten sie eine umfassende Steuerreform beschlossen. Schon bald jedoch verschwanden die Konzepte wieder in der Schublade. Sie wurden, wenn überhaupt, nur in Ansätzen verwirklicht.

War die Union 2003 noch vehement für eine Aufweichung des Kündigungsschutzes und die Einführung eines Niedriglohnbereichs eingetreten, so kehrte sie dieses Jahr ihre soziale Seite hervor: Die Delegierten stimmten in Leipzig mit großer Mehrheit für die Einführung allgemeiner, verbindlicher Lohnuntergrenzen in den Bereichen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn bislang nicht existiert.

Doch trotz aller programmatischen Unterschiede gibt es zwischen dem Bundesparteitag im Dezember 2003 und demjenigen im November 2011 eine zentrale Kontinuität: Merkels unmissverständlicher Führungsanspruch. Bereits als die Delegierten im Jahr 2003 in Leipzig zusammengekommen waren, hatten sie Geschlossenheit demonstriert und sich voll und ganz hinter ihre Vorsitzende gestellt. Während nur vier CDUler, darunter Norbert Blüm, gegen die Einführung der Gesundheitsprämie votiert hatten, war das von Friedrich Merz ausgearbeitete Steuerkonzept sogar ohne Gegenstimme angenommen worden.

Auch jetzt, acht Jahre später, konnte Angela Merkel wieder auf den Rückhalt ihrer Partei bauen: Mit großer Mehrheit billigten die 1001 Delegierten den Antrag des CDU-Bundesvorstands zur Europapolitik und bestätigten damit die Linie der Parteichefin. Gegenanträge fanden keine Mehrheiten. Die Delegierten folgten aber nicht nur dem Europakurs der Kanzlerin – sie stimmten auch mit großer Mehrheit der besagten Lohnuntergrenze zu. Gleiches gilt für die Bildungspolitik. Für die zentralen Themen des Bundesparteitages ist somit festzustellen: Wie schon 2003 folgten die Delegierten auch 2011 ihrer Vorsitzenden. Genau hierin besteht die Kontinuität zwischen den beiden Parteitagen.

Es stellt sich die Frage, wie es Angela Merkel trotz aller inhaltlichen Volten und trotz aller Kritik an der angeblichen Profillosigkeit der Union dieses Jahr erneut schaffte, ihren Führungsanspruch durchzusetzen. Vor allem zwei Ursachen lassen sich nennen. Zum einen hielt Merkel zu Beginn des Parteitages eine knapp einstündige Rede, in der sie keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie jeden einzelnen ihrer Kurswechsel für richtig hält. Ihr Kernbotschaft war: Weil sich die Zeiten und mit ihnen die Fragen veränderten, könne man nicht bei den gleichen Antworten bleiben. Eines aber bleibe unveränderlich: der „Kompass“, das heißt das „feste Wertefundament“, welches der Union seit 65 Jahren Halt und Orientierung gebe.

Diese einprägsamen Erklärungen, mit denen Merkel ihr bisheriges und ihr voraussichtliches Regierungshandeln legitimierte, scheinen die Delegierten überzeugt zu haben. Ihnen blieb auch kaum etwas anderes übrig, so sehr präsentierte sich Merkel als verlässliche Lotsin, die die Menschen durch schwierige Zeiten sicher begleitet. Immer wieder hob sie die Richtigkeit ihrer Politik hervor. Nachdem die CDU-Chefin beispielsweise das Eintreten ihrer Partei für eine Lohnuntergrenze erklärt hatte, sagte sie: „Das ist unsere Haltung, und diese Haltung ist richtig.“ Mit solchen und ähnlichen Sätzen gab Merkel ihrer Partei eine Richtung vor. Mit Erfolg, denn die Delegierten nickten ihren Kurs ab. Kritik hatte keinen Platz.

Zum anderen ist die Geschlossenheit, die auf dem Bundesparteitag 2011 herrschte, darauf zurückzuführen, dass unmittelbar vor dessen Beginn die Konfliktthemen Mindestlohn und Bildung entschärft worden waren, um kontroverse Abstimmungen zu verhindern. Hier wird der Führungsstil deutlich, den Merkel bereits in der Großen Koalition von 2005 bis 2009 gepflegte hatte und dem sie auch in der schwarz-gelben Regierung treu blieb: Taktieren und gleichzeitig moderieren, schlichten und ausgleichen sind Grundelemente ihres politischen Handelns. Und so bemühte sich Merkel auch direkt vor dem Bundesparteitag um Kompromisse, um Flügelkämpfe und eine Debatte über die ständigen Kurswechsel der CDU zu vermeiden. Das, was am 14. und 15. November in der Leipziger Messe erörtert wurde, hatte also bereits im Vorfeld alles Konfliktpotenzial eingebüßt. Merkel erreichte so genau das, was sie wollte: Der Bundesparteitag wurde zu einer Schau der Harmonie. Die Herausforderungen, vor denen die CDU vor allem im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl steht, gingen auf diese Weise unter – sowohl bei den Delegierten als auch in der Berichterstattung über den Parteitag.

Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.