„Bloß nicht Schatzmeister werden!“

[analysiert]: Johanna Klatt über Konflikte zwischen dem „hartem Kern“ und den „Nomaden“ der Zivilgesellschaft

Hochgebildete kennen sie: Die Angst vor der Verpflichtung. Die Angst davor, am nächsten Donnerstagabend wiederkommen zu müssen und womöglich noch zum Schatzmeister gewählt zu werden. Die Rede ist von zivilgesellschaftlichen Organisationsstrukturen, von Parteien, Kirchen und Vereinen, die durch feste Regelmäßigkeiten gekennzeichnet und lokal verankert sind. Aber auch von Ortsgruppen vieler Vereine oder Verbände der ehemals als „neu“ bezeichneten sozialen Bewegungen. Stellen wir uns dabei also das hochgebildete Individuum vor, das durch die Anforderungen der Ausbildung oder des Arbeitsmarktes gezwungen ist, flexibel zu sein und häufig den Wohnort zu wechseln. Oder große Teile der aufstrebenden und bildungsorientierten Jugend, die (wie es unter anderem die aktuellen Shell-Studien belegen) an effizienzorientiertes Arbeiten, Schnelligkeit und Zielstrebigkeit gewöhnt ist. In vielen Ortsvereinen, lokalen Aktionsbündnissen oder Basisgruppen stoßen diese jungen Menschen nun auf einen „harten Kern“ sich regelmäßig treffender Aktiver, der zwar im sozialen, kulturellen oder politischen Bereich eine ungemein wertvolle Arbeit leistet, jedoch auf den ersten Blick oft ein wenig, nun ja, strukturell „abschreckt“.

Was hier – etwas überzeichnet – dargestellt wird, ist die Einzelperspektive einer Tendenz: Zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland hat sich verändert, und geändert haben sich damit auch die Erwartungen und Anforderungen, die Individuen an Organisationen oder organisatorische Kontexte stellen. Das „bürgerschaftliche“ Engagement in Deutschland bleibt zwar insgesamt auf einem relativ hohen Niveau,[1] trotz der sinkenden Mitgliederzahlen von Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder auch einigen großen Umweltverbänden. Junge Gebildete – man mag von „gesellschaftlichen Eliten“ sprechen – unterstützen eher die so genannten „check book organizations“, favorisieren sporadisch und ungebunden nutzbare Engagementformen im Fitnessclubstil oder sind passive Mitglieder. Diese „Karteileichen“ lassen sich zwar ungern anbinden, streben aber in vielen Fällen danach, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Und sie verfügen durch einen hohen Bildungsgrad über ein hochklassiges „Humankapital“, das lokalen Zivilgesellschaftsgruppen vielfach fehlt.

Natürlich versuchen die großen Organisationen auf die veränderte Motivlage vieler Freiwilliger einzugehen, denn schließlich erscheinen aus ihrer Perspektive gerade die Hochgebildeten interessant. Das, was die Soziologen Hustinx und Lammertyn ein „mushrooming of new institutional structures“ nennen,[2] lässt sich in der Bundesrepublik an zahlreichen Aktionstagen oder -wochen, Freiwilligenbörsen, -zentren und -agenturen ablesen. Bei diesen Service- und Vermittlungsstellen kann man sich melden, eigene Fähigkeiten und Interessen angeben und aus einer Vielzahl ehrenamtlicher Einsatzstellen wählen. Oder aber man investiert seine Kraft und Energie in so genannte Zeitbörsen, in die man in aktiven Jahren Engagement sozusagen „einzahlt“, um eines Tages, im Falle eigener Bedürftigkeit, auf die Hilfestellungen anderer zurückgreifen zu können.

Doch bewegen wir uns weg von der individuellen Perspektive und werfen einen Blick auf die Bedeutung dieser Veränderungen für die gesamte Engagementstruktur der Zivilgesellschaft. Könnte ein derartiger gesellschaftlicher Wandel zu einer verstärkten Binnendifferenzierung geführt und womöglich gar die Bürgergesellschaft polarisiert haben? In der Forschung finden sich zumindest Hinweise auf unterschiedliche Engagementtypen; hier wird unter anderem zwischen reflexiven und kollektiven Stilen der Freiwilligenarbeit (Hustinx/Lammertyn) differenziert. Verkürzt gesagt stehen diese Typen für die in Deutschland immer häufiger nachgefragten flexiblen Engagementstrukturen einerseits sowie für die eher klassisch-kollektiven Strukturen, also die Kernmitglieder („core members“[3]) der Organisationen, andererseits.

In der Praxis scheint deren Zusammenarbeit nicht immer vollkommen reibungslos vonstatten zu gehen. Denn um beispielsweise der Gefahr einer Kollision klassischer mit modernen Partizipationsformen bereits präventiv zu begegnen, werden in Freiwilligenzentren ehrenamtliche Mentoren, Tutoren oder Begleiter eingearbeitet, die zwischen den „flexiblen“ Freiwilligen und den traditionellen Ehrenämtlern kommunikative Brücken bauen sollen. Ihre schiere Existenz weist dabei auf den Bedarf nach vermittelnden Einheiten zwischen Helfern, die „mal eben vorbeischauen“, und langjährigen Mitarbeitern hin, die sich etwa um nervenaufreibende bürokratische Tätigkeiten kümmern. Zeichnet sich hier womöglich eine zunehmende Parzellierung des zivilgesellschaftlichen Sektors ab? Und sind es womöglich verstärkt höher Gebildete und Einkommensstarke, die die Nachfrage nach modernen, flexiblen Engagementstrukturen in die Höhe treiben?

Auch Entwicklungen im europäischen Ausland, zum Beispiel in Norwegen, deuten darauf hin, dass die modernen Freiwilligen in Organisationen eine vorgefestigte Infrastruktur für ihr Engagement suchen, in der andere die „Papierarbeit“ erledigen (“If others can take care of the paperwork, it does not matter much if volunteers or professionals do the job.”)[4]. Österreichische Partizipationsforscher unterscheiden in ihrem Land unter anderem zwischen „leitenden“ Funktionen und „Kernaufgaben“ und stoßen dabei auf Zusammenhänge bezüglich des Geschlechts und des Erwerbsstatus von Freiwilligen. Berufstätige gehen demnach deutlich häufiger einer leitenden Tätigkeit nach (“The Austrian voluntary scene mirrored the employment hierarchy with respect to senior positions and the gender differences. In other words, the hierarchy of the working world was closely reproduced in the type of volunteering that people undertook (…).“). In Großbritannien treten Konflikte zwischen den beiden Engagementtypen besonders auch in der Parteienlandschaft offen zutage, wie die Politologin Catherine Fieschi berichtet: „Eine Parteiaktivistin auf einem kleineren Parteitreffen erzählte mir, dass sie einmal an einem Sonntag auftauchte, um Flugblätter zu verteilen – nur um abrupt gefragt zu werden, warum sie nicht schon am Samstag da gewesen sei.“ Die Antwort, weil ich ein Leben habe, käme nie gut an. Und zwar erst recht nicht bei denjenigen, die die besagte Papierarbeit leisten. Es ist eine „lose-lose“-Situation, stellt schließlich Fieschi fest, die sich auch in der Bundesrepublik wiederfindet – und zwar für beide, für die vorbeiziehenden Mitglieder, wie auch für die Aktiven vor Ort.

Es würde das Realitätsbild verzerren, wollte man der einen oder anderen Partizipationsform einen größeren Willen zur aufrichtigen Ehrenamtlichkeit zuweisen. Wenn Umfragen eines bestätigen, dann, dass sich die Bereitschaft zum Engagement allgemein über verschiedene Gesellschaftsschichten und Altersgruppen hinweg auffinden lässt.

Doch eine entscheidende und bisher auch durch die Wissenschaft nur unzureichend beantwortete Frage bleibt, welche Altersgruppen die neuen Beteiligungsformen anziehen. Greifen eher Jüngere auf sie zurück, so könnte sich ein steter Wandel abzeichnen und eine mögliche Spaltung zwischen Traditionalisten und Modernen mit der Zeit verwachsen – ein beweglicher Graben sozusagen. Wenn die Wahl der alten oder neuen Partizipationsform jedoch keine altersbedingten, sondern eher sozioökonomische Hintergründe hat, so besteht durchaus Grund zur Sorge, denn der soziale Graben der Bürgergesellschaft wäre gleichsam zementiert.

Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zusammen mit Franz Walter veröffentlichte sich jüngst das Buch „Entbehrliche der Bürgergesellschaft. Sozial Benachteiligte und Engagement“ im Transcript-Verlag.



  1. Vgl. beispielhaft die Ergebnisse der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführten nationalen Freiwilligensurveys (1999 bis 2009) sowie einige landesweite Erhebungen.
  2. Hustinx, Lesley; Lammertyn, Frans: Collective and Reflexive Styles of Volunteering: A Sociological Modernization Perspective, in: Voluntas: International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations 14 (2003) Nr. 2, S. 167-187, hier S. 177.
  3. Hustinx/ Lammertyn (2003), S.177.
  4. Wollebaek, Dag; Selle, Per: Generations and Organizational Change,in: Dekker, Paul et al. (Hrsg.): The values of volunteering – cross-cultural perspectives, New York [u.a.] 2003, S. 161-178, hier S. 175.