Alles wie gehabt?

[kommentiert]: Danny Michelsen über den Ausgang des britischen Wahlrechtsreferendums und die Identitätskrise der Liberal Democrats.

Man hoffe, dass „in der Zeit um die königliche Hochzeit eine sommerliche, optimistischere, eher eine Ja-Stimmung“ herrsche, die sich dann günstig auf das Wahlrechtsreferendum am 5. Mai auswirken werde, so ein Sprecher der „Yes to fairer votes“-Kampagne im Guardian Anfang Februar, als einige Umfragen zumindest ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gegnern und Befürwortern des zur Abstimmung gestellten Alternative-vote-Verfahrens (AV) angekündigt hatten. Seitdem war die öffentliche Abneigung gegen die Reform mit jeder Woche größer geworden. David Cameron, dessen Tories bei den gleichzeitig stattfindenden Regional- und Kommunalwahlen überraschend gut abschnitten, traf mit seiner schroffen Polemik gegen die Reform offenkundig auf fruchtbaren Boden: diese sei „undurchsichtig, ungerecht und teuer“, da sie zu Mehrkosten von 250 Millionen Pfund und unsicheren Parlamentsmehrheiten führen werde, so Cameron; schließlich könne man AV schon deshalb nicht trauen, weil es „nur von drei Ländern in der ganzen Welt verwendet wird: Australien, Fidschi und Papua-Neuguinea.“ Am Ende stimmten letzte Woche mehr als zwei Drittel der Wähler gegen eine Modifizierung des relativen Mehrheitswahlrechts.

Zweifellos kamen den Gegnern der Reform einige Umstände zugute, die mit ihrem Inhalt nur wenig zu tun haben. Der Vorsitzende der Labour Party, Edward Miliband, hatte die Zusammenlegung von Referendum und Regionalwahlen immer wieder kritisiert und seine Wähler davor gewarnt, ihre Entscheidung zur Wahlrechtsrechtsreform von einer Bewertung der Regierungsarbeit abhängig zu machen. Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass viele Bürger nur deshalb mit Nein gestimmt haben, um eine konservativ-liberale Koalition zu destabilisieren, deren umstrittene Maßnahmen zur Reduzierung eines gigantischen Haushaltsdefizits im vergangenen Herbst die größten Ausschreitungen auf englischen Straßen seit den Poll-Tax-Unruhen vor etwas mehr als zwanzig Jahren zur Folge hatten. Hinzu kommt, dass sich die sozialdemokratische Stammwählerschaft, deren spätes Umschwenken die Reform allein hätte retten können, nicht an einem Votum ihrer Partei orientieren konnte, denn Labour zeigte sich hinsichtlich AV tief zerstritten. Die Liberal Democrats waren daher die einzige der drei größeren Parteien, die geschlossen für die Reform einstand. Eine für die britische Parteienlandschaft höchst ungewöhnliche Konstellation: Der Bruch verlief sowohl durch die sozialdemokratische Opposition als auch zwischen den Regierungsfraktionen. Gemeinsame Wahlkampfauftritte von Labour-Chef Miliband und dem liberalen Minister Vincent Cable, eine von der ehemaligen sozialdemokratischen Außenministerin Margaret Beckett und Premier Cameron angeführte „No Campaign“ empfanden so manche Briten, die sich gerade an die erste Londoner Koalition seit dem Zweiten Weltkrieg gewöhnt hatten, vielleicht als eine allzu heftige Erosion des vertrauten Westminster-Modells, sodass ihnen ein Ja zum bestehenden, klare Mehrheitsverhältnisse erzeugenden First-past-the-post-Verfahren als ein Akt der Vernunft erschien. Der Bruch mit konstitutionellen Traditionen ist im Vereinigten Königreich seit jeher ein schwieriges Unterfangen, insbesondere wenn – wie etwa bei einem mit der Reform intendierten vorsichtigen Abrücken vom Zwei(einhalb)-Parteien-System – damit ein Aufbruch nach Kontinentaleuropa impliziert wird.

Fast genau ein Jahr ist es nun her, da Nick Clegg, Chef des liberalen Juniorpartners im Cameron-Kabinett und Deputy Prime Minister, nach den Koalitionsverhandlungen das Referendum als einen seiner größten Triumphe präsentierte. In ihrem Wahlprogramm hatte die LDP noch explizit für ein System der übertragbaren Einzelstimmgebung (Single Transferable Vote, STV) in Mehrpersonenwahlkreisen geworben, die im englischsprachigen Raum am häufigsten angewandte Form der Verhältniswahl. Das ist einer der Gründe für die in der liberalen Basis weitverbreitete Ansicht, die Parteiführung habe das eigene Programm im Mai 2010 viel zu billig verkauft: Die Alternativstimmgebung ist eine Variante der absoluten Mehrheitswahl, die, Zweit- und Drittpräferenzen der Wähler berücksichtigend, kleineren (insbesondere dritten) Parteien zwar förderlicher ist als die bestehende relative Mehrheitswahl, sie aber keinesfalls in demselben Maße begünstigt, wie es das Proporzprinzip (z.B. STV) tut. Und so konnte Cameron seinen Stellvertreter Clegg mit dessen eigenen, im Wahlkampf geäußerten Worten zitieren, AV sei nur „ein erbärmlicher kleiner Kompromiss“. Immerhin durfte Clegg bislang argumentieren, AV garantiere seiner Partei größere Wahlerfolge und den Wählern mehr Mitspracheoptionen als FPTP. Nun aber, da sich überhaupt nichts ändern wird und die LDP bei den Regionalwahlen im ganzen Land eine herbe Niederlage hinnehmen musste, befinden sich die Liberaldemokraten in der größten Identitätskrise ihrer Geschichte.

Diese Krise hat nicht erst im November des vergangenen Jahres begonnen, als der LDP-Vorsitzende mit seinem persönlichen Wahlversprechen, der Erhöhung von Studiengebühren niemals zuzustimmen, rigoros brach; als wütende Studierende, einst eine der wichtigsten Wählergruppen der Partei, auf der Straße Stoffpuppen mit Cleggs Antlitz entzündeten und in der entscheidenden Abstimmung über die Gebührenanhebung im Unterhaus am 9. Dezember die Mehrheit der liberalen Abgeordneten ihrer Führung die Gefolgschaft verweigerte. Die Krise der Partei begann schon während der Sommermonate, als man begriff, dass ausgerechnet die Liberalen, die in der Zeit von New Labour – als einzige Partei, die sich gegen den Irak-Krieg positionierte und gegen die Einführung von Studiengebühren protestierte – zu einem Sammelbecken für Linksliberale und enttäuschte Sozialdemokraten geworden waren, mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise ohne Widerspruch Pläne zur Streichung von fast 500.000 öffentlichen Stellen und diversen Sozialkürzungen mittragen würden. Für eine liberale Partei, deren Wähler- und Mitgliederprofil dem der Labour Party bis Mai 2010 ähnlicher war als dem der wirtschaftsliberalen Tories, ein denkbar riskanter Balanceakt.

Aber gibt es deshalb auch eine Regierungskrise? Während sich die Tories, trotz der von ihnen initiierten Einsparungen und der vom konservativen Minister Andrew Lansley ausgearbeiteten, überaus unpopulären Gesundheitsreform, im Glanze eines charismatischen Premierministers relativ stabiler Umfragewerte erfreuen und mit der von Cameron postulierten „Big Society“ eine nicht sehr originäre, aber kohärente und eingängige programmatische Vision vorweisen können, steht der kleine Koalitionspartner nach dem Referendum ohne (Aussicht auf) Erfolge und ohne signifikanten Einfluss auf das Agenda Setting der Koalition da. Eine für die Stabilität des Kabinetts nicht ungefährliche Konstellation, sollte man meinen – und doch redet niemand von Neuwahlen, die den Liberalen bei ihren gegenwärtigen Umfragewerten teuer zu stehen kämen, oder von der Flucht in eine Koalition mit der Labour Party unter einem Premier Ed Miliband, zumal es sich hierbei um ein Minderheitenkabinett unter der Duldung regionaler Kleinparteien handeln müsste. Auch gibt es bislang keine Anzeichen für eine Führungsdebatte in der LDP. Stattdessen hat sich bei den Liberalen eine Stimmung des „Durchhaltens“ eingestellt, mit der Hoffnung, dass die inhaltliche Profilierung gegenüber den Tories – z.B. in der Bürgerrechts- und Sozialpolitik – doch noch gelingt und am Ende der Legislaturperiode unter dem Eindruck solider Staatsfinanzen das Image einer verantwortungsbewussten Regierungspartei entsteht. Der programmatische Paradigmenwechsel, den die dritte Partei Großbritanniens derzeit durchlebt, ist auf absehbare Zeit ohnehin irreversibel. Solange jedenfalls die (seit dem massenhaften Mitgliederverlust der LDP an Labour nicht mehr zu übersehende) Ohnmacht des linksliberalen Parteiflügels anhält, müssen sich Cameron und sein Stellvertreter über ihre politische Zukunft vor 2015 keine Sorgen machen.

Danny Michelsen ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.