Tektonische Verschiebungen?Wahlkreispositionen zur Niedersächsischen Landtagswahl 2022

Kurzbeschreibung:

Die Landtagswahl in Niedersachsen am 09. Oktober 2022 hat auf Grund des Wahlsiegs von SPD und Grünen sowie den Zugewinnen der AfD für bundesweites Aufsehen gesorgt. Wie sehen die Ergebnisse in den 87 Wahlkreisen aus? Anhand des Ideological Centre of Gravity (ICG) zeigt Felicia Riethmüller, welche Wahlkreise sich nach links und welche sich nach rechts verschoben haben.

Felicia Riethmüller über Wahlkreispositionen zur Niedersächsischen Landtagswahl 2022

Die Landtagswahl in Niedersachsen am 09. Oktober 2022 hat auf Grund des Wahlsiegs von SPD und Grünen sowie den Zugewinnen der AfD für bundesweites Aufsehen gesorgt. Wie sehen die Ergebnisse in den 87 Wahlkreisen aus? Anhand des Ideological Centre of Gravity (ICG) lässt sich nachvollziehen, welche Wahlkreise sich nach links und welche sich nach rechts verschoben haben. So lassen sich Hinweise auf regionale Entwicklungen in Parteiensystem und Wahlverhalten finden.

Abb. 1. Ideological Centre of Gravity (ICG) für Niedersachsen 2022
Abbildung 2. Veränderung des Ideological Centre of Gravity (ICG) für Niedersachsen im Vergleich zur Landtagswahl 2017.

Parteihochburgen, Gewinne, Verluste. Es gibt viele Möglichkeiten, sich einem Wahlergebnis analytisch zu nähern. Das Ideological Centre of Gravity (ICG) ist eine davon und basiert auf einem Ansatz von Gross und Sigelmann (1984). Die Funktionsweise ist folgende: Wenn es darum geht, in welche Richtung ein Wahlkreis insgesamt ideologisch tendiert, ist von Bedeutung a) welche Parteien gewählt werden und b) welche Positionen die Parteien einnehmen. Bleiben etwa die Stimmen für eine Partei über Wahlen hinweg konstant, aber die Partei entwickelt sich ideologisch nach rechts oder links, ist anzunehmen, dass sich die Wähler*innen auch entsprechend entwickelt haben oder ggf. eine andere Partei wählen würden. Das ICG berechnet sich daher, indem die Parteipositionen aller relevanten Parteien gewichtet (multipliziert) werden nach ihrem jeweiligen Stimmanteil – sodass sich ein gewichteter Mittelwert je Wahlkreis ergibt.

Dafür müssen zunächst die ideologischen Positionen der Parteien messbar gemacht werden. Dafür gibt es verschiedene Methoden. Da es für Landesparteien wenig verfügbare Positionsdaten gibt, wurden diese hier anhand der Wordscores -Methode (Laver et al., 2003) berechnet. Diese basiert auf der Nutzung von Worthäufigkeiten, deren ideologische „Ladung“ anhand ihrer Verteilung von einem Algorithmus ermittelt wird. Ein Beispiel: wenn das Wort „Steuersenkungen“ häufiger von rechteren Parteien genutzt wird, können wir unter anderem anhand der Nutzung dieses Wortes Aufschluss über die Position eines bisher unbekannten Textes erhalten. Die Position eines Textes (hier: Wahlprogramms) ergibt sich dann als Mittelwert der so gewerteten Worte. Dafür wird ein Set an Referenztexten benötigt, deren Position wir kennen.  Als Referenztexte wurden für diese Analyse die Wahlprogramme der Bundesparteien jeweils für 2017 und 2021 verwendet, deren Positionsdaten bereits bekannt waren. Aus den mit Wordscores berechneten Werten wurde dann noch einmal der Mittelwert aus diesen und den Positionen der Bundesparteien berechnet. Anhand dieser Berechnung erhält man für die niedersächsischen Landesparteien folgende Positionen (höhere Werte = rechter):

Partei (Niedersachsen)Position 2017Position 2022
CDU4.945.43
SPD3.843.54
Grüne3.173.32
Linke2.632.22
FDP5.254.9
AfD6.436.94
Tabelle 1. Parteipositionen der niedersächsischen Landesverbände der im Bundestag vertretenen Parteien.

aufaddiert, sodass sich ein Wert je Wahlkreis bildet. So wurde für 2017 und für 2022 jeweils verfahren. Wichtig ist, dass sich hier nur die Positionen auf einer allgemeinen Links-Rechts Dimension angeschaut werden. Ökonomische und soziale bzw. soziokulturelle Dimensionen wurden hier nicht voneinander getrennt.

Was sehen wir also, wenn wir uns die Position der Wahlkreise für die Landtagswahl 2022 ansehen (Abbildung 1)? Der niedersächsische Mittelwert des ICG liegt bei 4.25, die Wahlkreise mit höheren Werten haben also rechter als der Durchschnitt gewählt, die Wahlkreise mit niedrigeren Werten linker als der Durchschnitt. „Rechtere“ Wahlkreise sehen wir vor allem im Westen Niedersachsens, das traditionell als Hochburg der CDU gilt, beispielsweise die Wahlkreise Cloppenburg (67), Papenburg (82) und Vechta (68). Aber auch im Osten Niedersachsens, im Raum Gifhorn, Uelzen und Celle wurde rechter gewählt als im Rest des Landes. In den Wahlkreisen Salzgitter (11) und Gifhorn-Nord/Wolfsburg (5) erreichte die AfD ihre höchsten Ergebnisse. „Linkere“ Wahlkreise bilden vor allem die großstädtischen Wahlkreise, beispielsweise Oldenburg (62-63), Hannover (23-27) oder Göttingen (15-16). Spannend am ICG ist vor allem, dass Wahlkreise differenzierter betrachtet werden können als nach einzelnen Stimmanteilen. Im Wahlkreis Wilhelmshaven (69) beispielsweise hat die AfD mit 14,2% einen überdurchschnittlich hohen Stimmanteil, allerdings sind dort auch die SPD mit 38,5% und die Linken mit 3,4% überdurchschnittlich stark, weshalb Wilhelmshaven insgesamt einen linkeren ICG-Wert erhält. Das Muster insgesamt sieht jedoch erst einmal recht bekannt aus. Doch seit der letzten Landtagswahl 2017 zeigen sich durchaus einige interessante Veränderungen.

In Abbildung 2 ist die Differenz zwischen den ICG-Werten 2017 und 2022 dargestellt. Negative Werte (rot) verweisen auf eine Veränderung nach links, positive Werte (grün) auf eine Veränderung nach rechts. Der fehlende Wahlkreis in Abbildung 2 ist der neu geschaffene Wahlkreis Lüneburg-Land, der 2017 noch nicht existierte. Eine nennenswerte Verschiebung nach links ist in einigen Wahlkreisen beobachtbar, vor allem in denjenigen, in denen die Grünen viele Stimmen bekamen und teils sogar Direktmandate holten. Wie etwa in Göttingen-Stadt (WK 16), aber auch Hannover, Oldenburg und Lüneburg. Insgesamt sehen wir jedoch, dass Wahlkreise mit Rechtsverschiebung leicht überwiegen. Besonders sichtbar ist diese Verschiebung im Nordwesten und Osten Niedersachsens. Im Westen, um das Emsland und Cloppenburg herum, wo die CDU traditionell stark ist, verzeichnet diese bei der diesjährigen Wahl auch ihre stärksten Verluste. Den höchsten etwa im Wahlkreis Cloppenburg (67), wo die CDU 2022 12,9 Prozentpunkte schlechter abschnitt als 2017. Die AfD konnte hier 13,9% der Stimmen gewinnen, wo sie 2017 noch nur 5,8% der Stimmen erhielt. Ihren höchsten Zuwachs von 9,5 Prozentpunkten erhielt die AfD in Gifhorn-Nord/Wolfsburg (5), wo sich im ICG-Wert ebenfalls eine Rechtsverschiebung zeigt (siehe Abbildung 2). Relevant sind hier natürlich nicht nur die Stimmanteilveränderungen, sondern auch, dass die Parteien, mit Ausnahme von Linken, Grünen und FDP, sich ideologisch weiter nach rechts verschoben haben – zumindest basierend auf der Wordscores-Berechnung. Welches Muster sehen wir also und welche Gründe kann es dafür geben? Ein erster Blick auf die Karte in Abbildung 2 lässt vermuten, dass der Faktor des Stadt-Land Unterschieds einen Einfluss haben könnte. Verschieben sich städtische Wahlkreise nach links und ländliche Wahlkreise weiter nach rechts? Die Verteilung der ICG-Veränderung seit 2017 nach Ländlichkeit bestätigt diese Vermutung (Abbildung 3):

Abbildung 3. Veränderung des Ideological Centre of Gravity (ICG) nach Ländlichkeit von -4 (kaum ländlich) bis 1 (äußerst ländlich).

Der Ländlichkeitsindex ist ein Maß des Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen (2022). Die Ländlichkeit ist tendenziell umso höher (bis Wert 1), je geringer die Siedlungsdichte, je höher der Anteil land- und forstwirtschaftlicher Fläche, je höher der Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser, je geringer das Bevölkerungspotenzial und je schlechter die Erreichbarkeit großer Zentren ist. Je kleiner der Wert (bis -4), desto städtischer lässt sich ein Wahlkreis wiederum einordnen[1]. In Abbildung 3 zeigt sich eine hohe Korrelation zwischen dem Ländlichkeitsindex für die niedersächsischen Wahlkreise und der ICG Differenz zu 2017. Inhaltlich bedeutet das: Je ländlicher ein Wahlkreis, desto weiter hat sich der Wahlkreis nach rechts bewegt und analog je städtischer, desto weiter nach links. Es bestehen also Tendenzen des Auseinanderdriftens ländlicher und städtischer Wahlkreise in Niedersachsen. Zu bedenken ist jedoch, dass sehr viele andere Faktoren ebenfalls zu einer Veränderung im Wahlverhalten und in den Parteipositionen führen können und Stadt-Land Unterschiede keinesfalls der einzige oder entscheidende Faktor sind.

Literatur

Gross, D. A., & Sigelman, L. (1984). Comparing party systems: A multidimensional approach. Comparative politics16(4), 463-479.

 Laver, M., Benoit, K., & Garry, J. (2003). Extracting Policy Positions from Political Texts Using Words as Data. American Political Science Review, 97(2), 311–331.

Thünen-Landatlas, Ausgabe 13/10/2022. Hrsg.: Thünen-Institut Forschungsbereich ländliche Räume, Braunschweig (www.landatlas.de)


[1] Die Werte bestehen auf Gemeindeebene und sind auf den Gebietsstand der Wahlkreise 2017 bezogen. Gemeindeverschiebungen zwischen Wahlkreisen für 2022 können zu geringfügigen Änderungen führen, die hier nicht mit einbezogen sind.